Wie sorgen wir dafür, dass das (Erfahrungs-)Wissen von Mitarbeitern und Arbeitsteams bereichsübergreifend ständig weitergegeben wird? Das fragen sich aktuell viele Unternehmen, denn in einer Zeit, in der Schnelligkeit ein wichtiger Erfolgsfaktor ist, werden Wissensinseln in der Organisation ein immer größeres unternehmerisches Risiko.
Für ihre Arbeit benötigen Unternehmen und ihre Mitarbeiter nicht nur Wissen und Know-how, sie sammeln hierbei auch Wissen und Know-how – zum Beispiel darüber
- wie bestimmte Kunden und Märkte ticken oder
- wie man gewisse Aufgaben und Probleme am besten löst oder
- worauf man beim Managen von Projekten oder Führen von Mitarbeitern achten sollte.
Die Summe dieses Know-hows entscheidet weitgehend darüber, wie leistungsfähig und erfolgreich ein Unternehmen ist. Es entscheidet auch darüber, wie schnell und effektiv es auf neue Herausforderungen reagieren kann, weil es aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt hat und hieraus die nötigen Schlüsse zog.
Wissen bewahren und weiter entwickeln
Deshalb spielt das Thema Wissensmanagement – also die Frage, wie eine Organisation dafür sorgt, dass
- Wissen nicht verloren geht und
- dieses so gespeichert und dokumentiert wird, dass es allen Mitarbeitern, die es für ihre (künftige) Arbeit brauchen, weitergegeben werden kann –
auch schon zu Zeiten eine wichtige Rolle, als der Begriff Wissensmanagement noch nicht existierte. Auch in ihnen fragten sich Beispiel Händler oder Landwirte bereits: Wie geben wir das Wissen, das sich im Laufe der Jahre in unseren Köpfen angesammelt hat, an unsere Nachkommen weiter? Und Spezialisten wie Handwerker fragten sich: Wie vermitteln wir unser Experten- und Erfahrungswissen an unsere Mitarbeiter weiter?
Diese Weitergabe von Wissen erfolgte zwar auch damals schon in mehr oder minder strukturierter Form, doch die Wissensvermittlung wurde noch nicht als ein Managementprozess verstanden, der systematisch und zielorientiert gestaltet werden sollte. Dieses Bewusstsein entwickelte sich erst im Laufe der Industrialisierung allmählich, als
- immer größere Unternehmen entstanden, die stets komplexere Produkte produzierten und verkauften, und
- die Arbeitsorganisation immer arbeitsteiliger wurde, wodurch auch mehr Wissensinseln entstanden, die über ein Spezial- oder Expertenwissen verfügten, das dem Rest der Organisation ganz oder teilweise fehlte.
In diesem Kontext gewann auch die Frage an Relevanz: Wie sorgen wir dafür, dass die Wissensbasis unserer Organisation nicht nur gewahrt bleibt, sondern sich auch so erneuert, dass das Unternehmen auch mittel- und langfristig erfolgreich ist?
Herausforderung: Vermittlung von Erfahrungswissen
Dabei wurde zunehmend zwischen dem sogenannten „expliziten“ und dem „impliziten Wissen“ unterschieden – zwei Begriffe, die der Chemiker und Philosoph Michael Polanyi prägte, unter anderem in seinem 1958 erschienenen Buch „Personal Knowledge“ und in dem 1966 erschienenen Buch „The Tacit Dimension“, einer Überarbeitung von Vorträgen, die er nach seiner Emeritierung 1959 als Professor an der Universität Aberdeen in den USA hielt.
Unter dem Begriff „explizites Wissen“ wird in der Regel das Wissen subsumiert, das unter anderem mittels Sprache, Schrift, Zeichnungen und Bildern eindeutig kodifiziert und dokumentiert an anderen Personen weitergegeben werden kann. Hierbei handelt es sich weitgehend um das Regel- und Faktenwissen, das man beispielsweise in Form von Berichten, Lehr-/Handbüchern, Arbeitsanweisungen, schriftlich fixierten Abläufen/Organigrammen oder Zeichnungen an andere Menschen weitergeben kann. Hierzu zählen auch alle wissenschaftlichen Erkenntnisse, die auf Zahlen, Daten und Fakten beruhen und über Veröffentlichungen in einer formalisierten Sprache kommuniziert werden. Dieses explizite Wissen kann aufgrund seiner kodierten Form auf zahlreichen Medien gespeichert, verarbeitet und übertragen werden.
Der Begriff „implizites Wissen“ hingegen bezieht sich auf das Wissen, das oft als Erfahrungswissen bezeichnet wird. Dieses Wissen, das sich aus Erfahrungen, Erinnerungen und Überzeugungen speist, bezieht sich auf das Können einer Person oder Organisation. Es kann seinem Träger bewusst sein, muss es aber nicht. Auf alle Fälle lässt es sich aber nicht oder nur schwer kodifizieren und dokumentieren und somit auch an andere Personen und Organisationen weitergeben. Typische Beispiele für ein implizites Wissen im betrieblichen Kontext sind,
- wenn ein erfahrener Verkäufer intuitiv spürt, wie er sich bei gewissen Kunden taktisch und strategisch verhalten muss, damit er einen Auftrag erhält, oder
- wenn ein erfahrener Techniker weiß, wenn nicht bald bestimmte Wartungsarbeiten an einer Maschine vorgenommen werden, bekommen wir mit ihr Probleme, ohne dass er dies begründen kann, oder
- wenn einem Unternehmer oder Manager sein Bauchgefühl sagt, obwohl scheinbar alle Fakten dagegen sprechen, sollten wir diese Chance nutzen, damit wir langfristig erfolgreich sind.
Implizites Wissen ist mit Einstellungen verknüpft
Beide Formen des Wissens sind für den Erfolg eines Unternehmens wichtig, wobei in der Regel gilt: Das Vermitteln des expliziten Wissens fällt ihnen leichter – nicht nur, weil es sich dokumentieren lässt, sondern auch weil die Unternehmen hiermit in ihren Bereichen Aus- und Weiterbildung bereits viel Erfahrung gesammelt haben.
Anders sieht es beim impliziten Wissen aus. Seine Vermittlung setzt oft voraus, dass es in einem gezielten Prozess der Externalisierung – beispielsweise durch eine systematische Befragung der Wissensträger oder eine systematische Analyse ihres Tuns – zunächst in ein explizites Wissen umgewandelt wird, so dass es dokumentiert werden kann. Dieses Externalisieren ist beim impliziten Wissen jedoch oft nur bedingt möglich, weshalb es anderen Personen häufig nur in dialogischen Verfahren wie zum Beispiel Coaching- und Mentoring-Programmen weitergegeben werden kann.
Hinzu kommt beim impliziten Wissen: Es ist oft außer mit konkreten Erfahrungen auch mit teils durch sie bewirkten Einstellungen, Überzeugungen und Haltungen verknüpft. Deshalb ist bei den Personen, die sich dieses Wissen internalisieren möchten – also so aneignen möchten, dass es ein integraler Bestandteil ihres Könnens wird – nicht selten auch eine Einstellungs- und Verhaltensänderung nötig. Sonst entfaltet es keine Wirkung. Auch deshalb ist seine Weitergabe oft nur in dialogischen Verfahren möglich.
Komplexität erfordert anderes Wissensmanagement
Dabei kann als Faustregel gelten: Je komplexer eine Aufgabe ist, umso mehr implizites Wissen, muss zu ihrer Lösung übertragen werden. Dies ist insofern relevant, als in der letzten Jahren unter anderem im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft sowie deren fortschreitender Digitalisierung die Arbeitswelt – zumindest in der Wahrnehmung der Mitarbeiter – stets komplexer wurde- Deshalb ist die These nicht gewagt: Die Unternehmen müssen der Vermittlung des impliziten Wissens eine größere Bedeutung und damit auch Zeit und Ressourcen beimessen, wenn sie vermeiden möchten, dass in ihrer Organisation immer mehr Wissensinseln entstehen, die letztlich
- die oft angestrebte hierarchie- und bereichsübergreifende, nicht selten sogar unternehmensübergreifende Team- und Projektarbeit erschweren,
- dem Schaffen der erforderlichen Strukturen, um schnell und flexibel bzw. agil auf neue Herausforderungen zu reagieren, im Wege stehen und
- ein Steigern der Innovationskraft und -geschwindigkeit der Organisation verhindern.
Neben dieser Herausforderung sehen sich die Unternehmen im Bereich Wissensmanagement mit einer weiteren konfrontiert: Auch das explizite Wissen, das in der Vergangenheit oft von Generation zu Generation weitergegeben wurde, veraltet in der von rascher Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägten VUKA-Welt sowie im Zeitalter der digitalen Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft rasch. Entsprechendes gilt für das externalisierte implizite Wissen: Alte Erfolgsrezepte taugen oft nicht mehr bzw. müssen aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen regelmäßig auf den Prüfstand gestellt werden. Zwar lässt sich heute das explizite Wissen, da es häufig elektronisch gespeichert ist (zum Beispiel in firmeninternen Wikis), viel einfacher als früher aktualisieren und organisationsweit verbreiten, ungeachtet dessen stehen die Unternehmen jedoch vor der Herausforderung, dieses fortlaufend zu aktualisieren. Deshalb gilt die alte Parole heute mehr denn je: Wissensmanagement ist ein fortlaufendes Projekt (bzw. ein fortlaufender Prozess). Es hat zwar einen Anfang jedoch kein Ende.
Wissensmanagement wird zum fortlaufenden Projekt
Dies haben in den letzten Jahren viele Unternehmen erkannt. Deshalb überdenken sie ihr tradiertes Wissensmanagement und versuchen dieses zunehmend den Rahmenbedingungen und Anforderungen im digitalen Zeitalter anzupassen. Dieser Prozess verläuft in der Regel wie folgt: In einem ersten Schritt wird zunächst, wie bei fast allen Projekten, die Ist- bzw. Ausgangssituation analysiert. Fragen werden gestellt wie:
- Wie erfolgt unser Wissensmanagement heute?
- Entspricht dies noch den Erfordernissen im digitalen Zeitalter?
- Lassen sich unsere Unternehmensziele, wie z.B. schneller und flexibler auf Marktveränderungen zu reagieren, so noch erreichen?
- Wo besteht ein Änderungs- bzw. Changebedarf?
Hierauf aufbauend stellen sich dann Fragen, die mit der Auftragsklärung zusammenhängen, wie:
- Welches Wissen brauchen wir (künftig) aufgrund seiner Erfolgsrelevanz und sollte deshalb kontinuierlich ausgebaut werden?
- Handelt es sich hierbei um explizites und/oder implizites Wissen?
- Wer sind die relevanten Wissensträger?
Sind diese Fragen vorläufig geklärt, stellen sich Fragen wie:
- Welche Ressourcen (u.a. Zeit, Geld, Technologien, Verfahren) stehen uns zur Wissensidentifikation, Wissensdokumentation und -verteilung sowie Wissensweiterentwicklung zur Verfügung bzw. Ressourcen brauchen wir? Welche Rahmenbedingungen struktureller, kultureller sowie motivationaler Art brauchen wir, damit in unserer Organisation keine bürokratische Wissensverwaltung, sondern ein zielorientierter sowie hierarchie-, bereichsübergreifender und funktionsübergreifender Wissensmarkt entsteht?
Auch beim Wissensmanagement Agilität bewahren
Sind diese Fragen wiederum vorläufig geklärt, können erste Versuchsballons gestartet werden, um das Wissensmanagement allmählich den Erfordernissen im digitalen Zeitalter anzupassen. Wichtig ist, dass dies in einem iterativen Prozess geschieht, in den immer wieder Reflexionsschleifen eingebaut sind „Befinden wir uns noch auf dem richtigen Weg?“, da die Unternehmen bzw. Projektteams hierbei Neuland betreten – nicht nur weil ihnen die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie neue Möglichkeiten der Wissensidentifikation, -speicherung und -dokumentation sowie Wissensverbreitung zur Verfügung stellt.
Mindestens ebenso relevant ist es im Prozess- bzw. Projektverlauf regelmäßig zu überprüfen:
- Erheben wir bei dem von uns eingeschlagenen Weg überhaupt das erfolgsrelevante Wissen, das unsere Organisation (künftig) braucht?
- Haben wir die relevanten Wissensträger als Mitstreiter beim Versuch, einen fluiden Wissensmarkt in der Organisation zu schaffen, gewonnen?
- Gelangt das erhobene Wissen auch zu den Mitarbeitern, die es für ihre Arbeit brauchen, und wird es von ihnen effektiv genutzt?
Diese Fragen gilt es sich im Projektverlauf immer wieder zu stellen, damit das übergeordnete Ziel erreicht wird. Dieses lautet: das Unternehmen fit für die Zukunft machen.
Fluider Wissensmarkt braucht starke Promotoren
Erschwert wird dies aktuell oft dadurch, dass ein damit verbundenes Ziel oft lautet: Das Unternehmen soll schneller und agiler auf neue Herausforderungen reagieren können. Deshalb schaffen viele Unternehmen zurzeit – insbesondere in den Bereichen, in denen die Kernleistungen der Organisation erbracht werden, – gerade Strukturen, die den einzelnen Arbeitsteams ein autonomeres und selbstbestimmteres Arbeiten ermöglichen sollen. Dies birgt jedoch stets die Gefahr, dass in der Organisation erneut Wissensinseln entstehen.
Deshalb stehen die Wissensmanager bei ihrer praktischen Arbeit eigentlich stets vor derer Herausforderung,
- einerseits die Strukturen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die für ein modernes, zukunftsorientiertes Wissensmanagement nötig sind, was auch ein gewisses Alignment – also ein Sich-verständigen auf gemeinsame Ziele und ein verbindliches Vorgehen und Verhalten – erfordert, und
- andererseits keinen bürokratischen Moloch zu schaffen, der ein agiles Arbeiten gerade wiederum erschwert.
Hier die erforderliche Balance zu finden, ist nicht nur eine komplexe Management-, sondern auch Leadership-Aufgabe, denn dies setzt voraus, bei allen Beteiligten
- ein Bewusstsein zu schaffen, warum ein modernes, zukunftsorientiertes Wissensmanagement für den Erfolg des Unternehmens nötig ist, sowie
- den Mindset zu fördern, der erforderlich ist, damit ein fluider Wissensmarkt in der Organisation entsteht.
Ohne starke Promotoren auf allen Management- und Führungsebenen gelingt dies nicht.
Über den Autor:
Klaus Kissel ist einer der beiden Geschäftsführer des Trainings- und Beratungsunternehmens ifsm, Höhr-Grenzhausen bei Koblenz. Der Systemische Coach sowie Personal- und Organisationsentwickler ist unter anderem Autor des Buchs „[amazon_textlink asin=’3864510473′ text=’Prinzip der minimalen Führung‘ template=’ProductLink‘ store=’www.amazon.de‘ marketplace=’DE‘ link_id=’7ae9506e-5964-4609-b531-09276994a657′]“ (Windmühle-Verlag).