Seit Jahrzehnten zeigt sich ein schaurig-interessantes Phänomen: Sobald ein Selbstmord geschieht oder ein Amoklauf stattfindet, steigen in den nächsten Wochen hochsignifikant Selbstmorde und Amokläufe. Dabei gibt es zwei Besonderheiten: Die Steigerung erfolgt nur, wenn breit in den Medien darüber berichtet wird. Und: Die Selbstmörder und Amokläufer kommen überwiegend aus der gleichen Peergroup wie die Akteure.[1]
Den zugehörigen Effekt bezeichnen Psychologen als soziale Ansteckung: Ob wir wollen oder nicht, das Verhalten unserer Mitmenschen beeinflusst uns. Wenn wir unsicher sind, was wir tun sollen, orientieren wir uns an anderen – bevorzugt an jenen, die uns ähnlich sind. Unternehmen können diesen Effekt für die Mitarbeiterbindung und das strategische Recruiting nutzen.
Der Effekt zeigt, dass es kontraproduktiv ist, sich in den sozialen Medien über unerwünschtes Verhalten oder vermeintlich negative Eigenschaften einzelner Gruppen zu beschweren. Beispielsweise darüber, dass die Wechselbereitschaft bei Angehörigen der Generation Z beinahe 50 % beträgt oder dass sie besonders anspruchsvoll bei der Wahl ihrer Arbeit sind und exorbitant hohe Gehälter verlangen. Wer solche Beiträge vor dem Hintergrund der sozialen Ansteckung betrachtet, erkennt, dass sie die anderen Angehörigen der jungen Generation animieren, sich ebenfalls anderweitig umzusehen oder ihre Anforderungen anzuheben. Die Kunst liegt darin, auch die andere Seite der Medaille zu betrachten. So kann man ebenfalls davon berichten, dass 50 % der Generation Z mit ihrem Job zufrieden und ihrem Arbeitgeber gegenüber loyal sind, um erst einmal richtig im Berufsleben anzukommen.
Soziale Ansteckung in der Mitarbeiterbindung
Eine weitere Chance, den Effekt zu nutzen, bieten Mitarbeitergespräche. Viele Unternehmen führen Exitgespräche, um Feedback zu erhalten und die eigene Attraktivität zu erhöhen. Impuls: Führen Sie auch Bleibegespräche, in denen Sie erheben, warum Mitarbeiter verschiedener Peergroups gerne bei Ihnen arbeiten und teilen Sie die Ergebnisse.
Die Statements können unzufriedene Mitarbeiter anstecken und ihre Identifikation mit dem und ihre Loyalität zum Unternehmen stärken. Am wirksamsten sind Statements, die in Bild und/oder Ton zur Verfügung stehen oder solche, die Kollegen wörtlich zitieren, sei es auf der Karriereseite, den Sozialen Medien oder einem internen Beitrag. Auch Storytelling bildet ein probates Mittel, das es den Lesern erleichtert, sich mit den Akteuren zu identifizieren.
Wer dagegen hofft, durch einen begeisterten Beitrag eines Mitglieds der Geschäftsführung Azubis zu begeistern und Nachwuchskräfte anzulocken, darf sich nicht wundern, wenn das Vorhaben misslingt. Je besser die zitierte Person zur Zielgruppe passt, desto stärker die Identifikation und der Effekt.
Soziale Ansteckung im Recruiting
Neben der Mitarbeiterbindung ist bei der Suche nach den besten Fachkräften das Recruiting ein kritischer Faktor. Je nach Berufsbild, Alter und Region sind im DACH-Raum zwischen 37 und 70 % der Bewerber wechselbereit. Aber nur 10 % werden selbst aktiv. Der Effekt der sozialen Ansteckung kann auch bei Social-Media-Recruiting-Kampagnen genutzt werden, um deren Effizienz zu erhöhen. Nutzen Sie Erfahrungsberichte und Beispiele von Mitarbeitern aus der anvisierten Zielgruppe, aus der Sie Kandidaten gewinnen wollen. Beispielsweise:
- Absolventen der gesuchten Studiengänge von spezifischen Universitäten oder Fachhochschulen aus dem In- oder Ausland, denen die positiven Erfahrungsberichte eines Absolventen des letzten Jahrgangs eingeblendet werden.
- Fachkräfte und Spezialisten aus anderen Ländern, denen gezeigt wird, dass Mitglieder ihrer Peergroup den Weg zu Ihrem Unternehmen schon erfolgreich gegangen sind.
- Branchenwechsler: Während Corona wechselten beispielsweise viele Fachkräfte vom HoGa-Bereich in den Handel. Für Köche sind die geregelten Arbeitszeiten und die angenehmeren Arbeitskonditionen in der Fleischabteilung eines Supermarktes attraktive Optionen. Die Industrie ist eine anziehende Option für Elektriker aus dem Handwerk. Untersuchen Sie in Ihrem Unternehmen, auf welchen Wegen einzelne Kollegen zu Ihnen gekommen sind und ob sich diese systematisieren lassen.
- Positionswechsler: Zahntechniker haben zu über 95 % die Fähigkeiten, die auch ein Uhrmacher benötigt. Bäcker können mit geringer Umschulung mit Mischungsverhältnissen in der chemischen Industrie umgehen und sind dadurch interessante Kandidaten. Ihnen und vergleichbaren Kandidaten kann der Schritt zum Wechsel schmackhaft gemacht werden, indem ehemalige Kollegen zeigen, wie zufrieden sie in ihrem neuen Aufgabengebiet sind.
- Unternehmen nach einem Eigentümerwechsel: Langjährige Mitarbeiter sind ihrem Unternehmer oft treu verbunden und meist immun gegen Wechselangebote. Ist der „alte“ Chef jedoch weg, schwindet bei vielen Mitarbeitern auch die Loyalität. Dazu kommt, dass neue Chefs oft erst einmal ein paar Dinge ändern und dabei den Missmut ihrer Mitarbeiter evozieren. Wenn diesen gezeigt wird, dass vergleichbare Fachkräfte nach einem Wechsel zufrieden sind, steigt die Wechselbereitschaft und die Chancen auf eine Bewerbung.
- Marode Unternehmen: Mitarbeiter sind hier häufig unentschlossen: Sollen sie bleiben und versuchen, etwas an der immer schlechter werdenden Lage zu ändern, oder auf die eigene Energie achten und sich nicht in einem aussichtslosen Kampf verheizen lassen? Oft müssen Mitarbeiter in solchen Situationen die Folgen von Missmanagement oder größeren globalen Entwicklungen kompensieren, was auf Dauer ihre Kräfte übersteigt und ihr Burnout-Risiko erhöht. Auch hier kann die Geschichte von jemandem, der in der gleichen Situation war, helfen, um sie zum entscheidenden Schritt – einem Wechsel zur rechten Zeit – zu motivieren.
- Analog: Unternehmen mit geringer Mitarbeiterzufriedenheit. Wenn Unternehmen bei Kununu oder Glassdoor schlechte Bewertungen haben, können deren Mitarbeitern Angebote gemacht werden, in denen gezeigt wird, wie zufrieden vergleichbare Kollegen nach einem Wechsel sind.
Fazit: Wenn der Effekt der Sozialen Ansteckung klug genutzt wird, ermöglicht er Unternehmen, ihre Mitarbeiter stärker zu binden und die Effizienz von personalisierten Recruiting-Techniken wie Social Media Recruiting, Active Sourcing und Performance Recruiting zu steigern.
[1] Robert B. Cialdini, Influence, S. 200ff.
Über den Autor:
Christian Bernhardt gilt als einer der führenden Experten zum Thema „Nonverbale Kommunikation im Recruiting“. Als Kommunikationspsychologe und Körpersprachetrainer hat er zahlreiche Unternehmen branchenübergreifend bei der Stellenbesetzung unterstützt. In Deutschland und der Schweiz ist er zudem ein gefragter Referent sowie Coach für Führungskräfte rund um die Themen Fachkräftemangel und Wertschätzung.