Seit Jahren ist belegt: Mangelnde Wertschätzung ist der Hauptgrund, warum einst zufriedene Mitarbeiter beginnen, Dienst nach Vorschrift zu leisten und schließlich innerlich oder tatsächlich kündigen.[1] Ebenso ist Wertschätzung ein essentieller Faktor für ein innovatives Arbeitsklima. An Tipps zu wertschätzender Führung mangelt es von daher nicht.
Häufig wird dabei jedoch übersehen, dass es Gegenspieler gibt, die die Macht haben, auch die ambitioniertesten Wertschätzungs-Bemühungen zu sabotieren. Dieser Artikel beschreibt einige kritische Hindernisse und wie es gelingt, sie zu überwinden.
Die Jericho Studie: Lernen von den Besten?
Können Seelsorger ein gutes Vorbild sein, wenn es um die Kultivierung von Wertschätzung geht? Wer von der Liebe Gottes erfüllt ist, dem sollte es leichtfallen, anderen fürsorglich zu begegnen. Diesem Gedanken folgend, wählten im Jahr 1973 die Princeton-Psychologen, John M. Darley und C. Daniel Batson Theologiestudenten als Probanden für ihre „Jericho-Studie“. Die Ergebnisse der Studie gingen um die Welt und sind für die heutige Führung aktueller denn je.
Um zu untersuchen, welche Faktoren Nächstenliebe und Empathie beeinflussen, unterteilten Darley und Batson die Studierenden in zwei Gruppen. Beide sollten einen Vortrag vorbereiten, und diesen dann in einem anderen Gebäude der Uni präsentieren. Um den Einfluss positiver Vorbilder zu untersuchen, erhielt eine der beiden Gruppen als Vortragsthema das Gleichnis des barmherzigen Samariters, die andere ein neutrales Thema.
Der barmherzige Samariter
Drehen wir die Zeit 2000 Jahre zurück: Am Rand der Straße nach Jericho liegt ein schwerverletzter Mann, der kurz zuvor von Räubern überfallen wurde. Ein Priester kommt vorbei. Doch statt zu helfen, geht er weiter. Ihm folgt ein Levit, damals bekannt als moralisch hochstehende Persönlichkeit. Doch auch er hilft nicht. Nun kommt ein Samariter, zur damaligen Zeit als Ungläubiger geächtet. Er hält an, pflegt die Wunden des Todgeweihten und bringt ihn zur nächsten Herberge, wo er den Wirt für die Unterkunft und weitere Pflege des Verletzten im Voraus bezahlt.
Wertschätzungs-Saboteure
Im Jahr 1973 interessierte die Psychologen neben der Untersuchung des Einflusses positiver Vorbilder eine weitere Frage: Wäre es auch möglich, die Hilfsbereitschaft der Studenten zu senken? Die Hypothese war, dass mit steigendem Stress die Empathie sinkt. Einem Teil der Studenten ließen Darley und Batson von daher ausreichend Zeit, um zum anderen Gebäude zu gehen und ihren Vortrag zu halten. Der zweiten Gruppe sagten sie, sie hätten nur noch wenig Zeit. Die dritte Gruppe forderten sie auf, sich zu beeilen, da sie bereits zu spät dran seien!
Auf dem Weg zum Vortrag im anderen Gebäude erfolgte der eigentliche Test. Die Psychologen hatten das Samariter-Szenario nachgestellt und eine verletzte Person am Wegesrand platziert, die Hilfe benötigte. Nun wurde es spannend: Welcher der verschiedenen Faktoren würde das Verhalten der Probanden wie stark beeinflussen?
Die Ergebnisse überraschten, denn das Thema, mit dem sich die Probanden beschäftigt hatten, beeinflusste sie wesentlich schwächer als der Stress, dem sie ausgesetzt wurden. Studenten, die sich mit einem neutralen Thema beschäftigt hatten, halfen signifikant häufiger als die gestressten Angehörigen der Samariter Gruppe. Unabhängig vom Thema halfen Studenten umso seltener, je höher ihr Zeitdruck war. Fazit: Die Wirkung positiver Vorbilder und frommer Vorsätze verpufft, wenn der Druck steigt. Je gestresster wir sind, desto selbstbezogener handeln wir.
Stress und Druck reduzieren
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Wenn du schnell gehen willst, gehe allein, wenn du weit kommen willst, gehe gemeinsam. Große Dinge gelingen nur selten ohne Hilfe. Im Zentrum jeder Organisation steht von daher der Grundsatz der Kooperation. Je besser es gelingt, Gräben zwischen den Abteilungen abzubauen und Silodenken aufzubrechen, desto besser werden Synergieeffekte realisiert und steigen Kreativität, Output und Gewinn. Die Ergebnisse der Jericho-Studie zeigen: Steigt der Stress, verlieren wir den Blick fürs große Ganze. Hoher Druck ist Gift für das Miteinander. Wie kann diesem Effekt auf der organisationalen und auf der individuellen Ebene begegnet werden?
Organisationale Ebene: Die Struktur einer Organisation prägt die Kommunikation, das Verhalten und letztlich das Bewusstsein der Mitarbeiter. Um nachhaltige Änderungen zu erreichen, gilt es die verschiedenen strukturprägenden Elemente der Organisation zu untersuchen und jene zu verändern, die dem Zusammenhalt im Weg stehen und den Druck steigern. Neben den üblichen Verdächtigen, wie der hierarchischen Struktur, den Kommunikationswegen sowie Regeln und Richtlinien, lohnt sich ein Blick auf die Entscheidungsfindung und den Umgang mit Konflikten.
Eine Empfehlung an alle Führungsebenen lautet: Stresst die, die in der Hierarchie unter euch stehen, nicht durch zu hohen Druck. Der steigende Druck auf die unteren Führungskräfte untergräbt deren Empathie und grundlegende Fähigkeit, ihre Mitarbeiter wertzuschätzen. Wenn dadurch die Fluktuation steigt, wird eine Negativspirale angestoßen, denn die steigende Arbeitsbelastung erhöht den Druck auf die verbleibenden Kollegen weiter und führt zu weiteren Ausfällen.
Pausen = mentale Verdauungszeit
In Zeiten von Teams und Co gilt: Übertaktet euch und eure Mitarbeiter nicht durch zu eng gesetzte digitale Meetings! Menschen brauchen nach Meetings eine mentale Verdauungszeit, in denen ihr Unbewusstes den Input verarbeiten und reflektieren kann. Wer hat es nicht schon erlebt, dass ihm in der Pause nach einem Meeting, sobald er sich kurz entspannt, der entscheidende Gedanke zur Verbesserung kommt, er einen kritischen Fehler erkennt oder einen blinden Fleck identifiziert? Verbannen Sie digitale Follow-Up Meetings aus dem Kalender und blocken Sie sich ausreichend Puffer zwischen zwei digitalen Meetings.
Wer Mitarbeiter hat, bei denen Empathie wichtig ist, wie Berater oder Verkäufer, sollte diesen gestatten, ihre Kalender mit ausreichend Luft zwischen den Terminen zu füllen. So führt der durch Dokumentation und andere Aufgaben entstehende Zeitdruck nicht dazu, dass Menschen in den Tunnelmodus schalten und die Offenheit für ihre Kunden und Kollegen verlieren.
Gerade in Zeiten, in denen es kriselt, brechen regelmäßig Aktionismus, Kontrollwut und Mikromanagement aus. Statt den Mitarbeitern den Rücken freizuhalten, werden sie unter Generalverdacht gestellt und infantilisiert. Faustregel: Wenn wirklich kritische Dinge nicht laufen und das Problembewusstsein fehlt, darf interveniert werden. Ansonsten führen zu hoher Druck und kleingliedrige Führung zu den oben beschriebenen Ergebnissen. Etwaige kurzzeitige positive Effekte werden in der Regel durch die späteren Kosten überschattet.
Wer lacht, hat noch Reserven: Selbst- und Energiemanagement
Betrachten wir zuletzt die individuelle Ebene: Wie stark Menschen etwas stresst, ist subjektiv. Kritisch dafür sind zwei Dinge: erstens das Verhältnis von persönlicher Kompetenz zum Grad der Herausforderung und zweitens das Energieniveau.
Arbeiten im Flow: Während es Otto Normalverbraucher den Schweiß auf die Stirn treibt, wenn er einen Vortrag vor 400 Leuten halten soll, löst die gleiche Aufgabe bei einem erfahrenen Redner Vorfreude aus. Wichtig dafür, ob wir Druck und Stress empfinden, ist nicht die Aufgabe selbst, sondern ihr Verhältnis zu unserer Kompetenz. Der Pionier der positiven Psychologie, Mihaly Csikszentmihalyi konnte in seinen Untersuchungen zur Arbeit im Flow zeigen, dass wir mühelos und produktiv arbeiten, wenn der qualitative Grad der Herausforderung ca. 4 % über unseren Fähigkeiten liegt, wir also an der Herausforderung wachsen können. Ist die Aufgabe zu schwierig oder umfangreich, fühlen wir uns überfordert und kollabieren. Ist sie zu leicht, langweilen wir uns und verlieren die Motivation.
Die Grafik zeigt drei Bereiche, in denen sich das Arbeitserleben der Mitarbeiter und Führungskräfte bewegt. Darüber hinaus weist sie auf zwei wichtige Anforderungen der Führung hin: Erstens, die Aufgaben so auf die Mitarbeiter zu verteilen, dass alle individuell stimuliert werden und zweitens ein kontinuierliches Lernen zu ermöglichen und zu unterstützen. Je höher die Kompetenz des Mitarbeiters, desto weniger Stress empfindet er bei der gleichen Aufgabe und desto empathischer und wertschätzender kann er sich verhalten. Führungskräfte der unteren Ebenen müssen lernen, sich gegen unangemessene Forderungen der oberen Ebenen abzugrenzen und die eigene Entwicklung voranzubringen. Lebenslanges Lernen braucht es auf jeder Ebene.
EQ-Booster #1: Schlaf
So banal es klingen mag: Einer der wichtigsten Faktoren für mehr Empathie und Wertschätzung in der Führung ist ausreichender Nachtschlaf. Der renommierte Schlafforscher Prof. Dr. med. Matthew Walker weist in seinem Bestseller[2] nach, dass ein Minimum an Schlaf kein Status- und Stärkemerkmal ist, sondern 7-8 Stunden Schlaf für ein langes und gesundes Leben, die individuelle Leistungsfähigkeit und Führungskompetenz absolut kritisch sind.
Schlaf und Empathie: Unsere Schlafphasen dauern rund 90 Minuten und umfassen Tiefschlafphasen, in denen wir körperlich regenerieren und Traum-Phasen (REM-Phasen), in denen wir unsere emotionalen Kapazitäten wieder aufladen. Kritisch ist, dass dies vor allem ab der fünften Schlafphase geschieht, d.h. wenn wir 7:30 Stunden schlafen können. Studien belegen also, dass der Schlaf zwischen Stunde 6 und 7:30 Uhr über unsere Empathie und unsere emotionale und soziale Intelligenz entscheidet.
Auch für die Fähigkeit zu lernen ist ausreichender Schlaf (6-8 Stunden) unabdingbar. Das ist gerade mit Blick auf das Flow-Modell und die stetig steigenden Herausforderungen ein kritischer Faktor. Neben der Quantität ist die Qualität entscheidend. Die wichtigsten Faktoren für einen optimalen Schlaf sind feste Schlafenszeiten und das Lichtmanagement. Da unser Bio-Rhythmus noch aus einer Zeit stammt, in der es kein künstliches Licht gab, sind helles und blaues Licht die schädlichsten Faktoren für einen gesunden Schlaf. Wer 3-4 Stunden vor dem Schlaf das Licht dämpft und bei seinen elektronischen Geräten den Blaulichtfilter einschaltet, kann hier schon einiges tun. Immer beliebter werden auch Blaulichtbrillen, die ab 21 Uhr getragen werden.
Was können Unternehmen einen guten Schlaf ihrer Mitarbeitenden unterstützen? Walker beschreibt, wie vielerorts der späte Chronotyp benachteiligt wird. Die sogenannten Eulen werden später müde und würden -demzufolge lieber später aufstehen. Da unser System jedoch von Lärchen dominiert wird, beginnen viele Meetings schon um 8:30 Uhr morgens – also gerade dann, wenn sich die Eulen nochmal umdrehen müssten. Eine Firma, die der Schlafhygiene aller Mitarbeitenden gerecht werden will, kann diesen, soweit durchführbar, flexible Arbeitszeiten ermöglichen und Team-Meetings erst um 10 Uhr anfangen lassen. Eine weitere Chance bietet die Erlaubnis zum Mittagsschlaf. Global führende Unternehmen, die das Umfeld so optimieren, dass die Mitarbeiter ihre bestmögliche Leistung erbringen können, haben schon seit Jahren Ruheräume für Power-Naps eingerichtet. Andere haben Yoga-Matten im Büro, auf denen Mitarbeiter mittags für 10-15 Minuten ihre Akkus wieder aufladen können.
Fazit: Je komplexer und herausfordernder die Leistungen sind, die eine Firma erbringt, desto wichtiger sind ein gutes Miteinander, Wertschätzung und Empathie. Diesbezüglich sind Stress und Druck kritische kontraproduktive Faktoren, denen bewusst und entschieden begegnet werden sollte, um nicht die Bemühungen, die an einer Stelle gemacht werden, an einer anderen zu konterkarieren. Auf dem Weg zu einem stärkeren und empathischen Miteinander, das nicht nur die Kreativität, Lern- und Leistungsfähigkeit, sondern auch die Attraktivität als Arbeitgeber steigert, sind alle Hierarchiestufen gefordert. Dabei gibt es immer seltener Lösungen von der Stange und immer häufiger die Notwendigkeit, individuelle Antworten zu finden.
[1] https://www.mckinsey.com/capabilities/people-and-organizational-performance/our-insights/great-attrition-or-great-attraction-the-choice-is-yours
[2] Matthew Walker, Das große Buch vom Schlaf
Über den Autor:
Christian Bernhardt ist Dozent, Autor, Berater und Speaker für Lösungen gegen den Fachkräftemangel. Sein Buch „Echte Wertschätzung“ erschien 2022. Es beschreibt, wie es gelingt, Beziehungen zu stärken. Vertrauen zu vertiefen und Teams zu entwickeln. Bernhardt berät Unternehmen und hält Vorträge und Trainings zu Recruiting und Kommunikation in Deutschland und der Schweiz.