So beenden Unternehmen das große Davonlaufen

Immer mehr Mitarbeiter verlassen ihre Arbeitgeber. Dadurch entsteht ein Teufelskreis, denn die Abgänge sind immer schwerer zu kompensieren und belasten dadurch die verbliebene Belegschaft. Fatalerweise reagieren Führungskräfte in diesen Situationen zwar intuitiv nachvollziehbar, aber operativ kontraproduktiv.

Ob die Nachbesetzung überhaupt gelingt, hängt von der Recruiting-Kompetenz der Betriebe ab. Professionelle Prozesse, ernsthafte Mitarbeiterbindung, die an der Kultur des Unternehmens und dem Menschenbild der Führungskräfte ansetzt, sowie konsequente Personalentwicklung werden über Erfolg oder Scheitern entscheiden.

Danke für den Fisch!

Als 2021 in den USA die „Great Resignation“, das große Davonlaufen, begann, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis die Kündigungswelle der Mitarbeiter auch Europa und die D-A-CH Länder erreichen würde. Wie verschiedene Umfragen von Gallup und anderen Instituten zeigen, verschärfte sich im Frühjahr 2022 auch hierzulande die Lage. Rund ein Viertel der Mitarbeiter steht in den Startlöchern und will seinem Unternehmen bereits in den nächsten 12 Monaten den Rücken kehren. Über 40 % planen den Absprung in den nächsten 3 Jahren. Dass das mehr als nur Statistiken sind, erlebte ich kurz nach Ostern, als eine Bekannte ihren gutbezahlten und sicheren Job kündigte. Sie ist fähig, fleißig und gewissenhaft, hat ihren Master mit Bestnote absolviert und strotzt mit Anfang 30 nur so vor Energie.

Die aktuelle Beschäftigung passt perfekt zu ihrem Abschluss. Die Kollegen und Führungskraft sind nett, das Arbeitsklima gut. Eigentlich bietet sich nach 5 Jahren Berufserfahrung nun der nächste Karriereschritt an. Trotzdem hat sie gekündigt. Liegt es am Arbeitgeber? Meiner Ansicht nach nicht, dieser macht vieles, wenn auch sicher nicht alles, richtig und hat eine sonst niedrige Fluktuationsquote. Besonders prekär: Sie kündigte ihre Beschäftigung ohne (!) eine Anschlussbeschäftigung in der Hinterhand zu wissen. Damit ist sie nicht allein. Rund jeder achte Mitarbeiter, der geht, legt beim alten Betrieb ab, ohne dass ein neuer Hafen in Sicht ist. Wo bei älteren Registern noch das Sicherheitsdenken überwiegt, sind besonders die Vertreter der jüngeren Generationen diesbezüglich konsequenter. Erst mal Freiraum schaffen und dann schauen, womit dieser sich füllen wird.

Was tun bei Personalmangel?

Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein 15-köpfiges Team. Eine Stelle ist schon länger unbesetzt, für die sich einfach niemand Passendes findet. Letzte Woche hat sich ein Mitarbeiter für längere Zeit AU gemeldet. Wie so häufig darf es keiner sagen, aber alle wissen, dass ein Burnout dahintersteckt. Das kann länger dauern. Damit nicht genug: Gestern hat Ihnen eine Mitarbeiterin strahlend mitgeteilt, dass sie in freudiger Erwartung ist. Sie haben sich ihre Urlaubs- und Überstundenkonten angesehen und es ist klar, dass sie noch rund 8-10 Wochen Puffer haben, bis die neue Situation sich aufs Team auswirkt. Ein anderer Mitarbeiter hat im letzten Personalgespräch verkündet, dass er gerne mal ein Sabbatical nehmen würde und sich für 6 Monate ausklinken möchte. Damals fanden Sie das keine schlechte Idee. Das hat Hoffnungen auf eine zeitnahe Realisierung genährt, die sie eigentlich nicht enttäuschen wollen. Und genau jetzt kommt eine Mitarbeiterin vom Schlag meiner Bekannten und kündigt mit einer dreimonatigen Frist.

Die Hütte brennt also und Abhilfe ist erst einmal nicht in Sicht. Laut IAB, dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, vergehen aktuell rund 4-5 Monate, bis eine Stelle nachbesetzt werden kann. Je nach Position, Branche, Standort, Ruf der Firma und Kompetenz der Recruiter kann die „time to fill“ aber wesentlich länger dauern.

Praxistipp: Rekrutieren Sie strategisch!

Wenn Sie sich ein genaueres Bild machen möchten, wie in Ihrem spezifischen Fall die Lage ist, können Sie im Arbeitsmarktmonitor der Agentur für Arbeit unter der Rubrik „Fachkräfteradar“ schauen, wie die Situation für verschiedene Berufsbilder in Ihrer Region ist. Das ermöglicht Ihnen, weitsichtiger und erfolgreicher nach Personal zu suchen. Wenn die durchschnittliche Zeit der Stellenbesetzung bei 6 Monaten liegt, ist es fahrlässig, erst mit der Suche zu beginnen, wenn der Personaldamm bereits zu brechen beginnt.

Wie prekär die Situation vielerorts ist, zeigte eine Erhebung der Personalvermittlung Hays im Februar 2022. Nicht die sonst vielgesuchten Ingenieure oder IT-Spezialisten sind auf der Liste der gefragtesten Berufsbilder ganz oben, sondern der gute alte Recruiter. Der Bedarf stieg im Vergleich zur Vor-Corona Zeit um 93 %, was beinahe so viel ist, wie Ingenieure (48 %) und IT-Spezialisten (+54 %) zusammen.[1]  Eigentlich logisch: Wenn im Kampf um die besten Talente alle die Ellbogen ausfahren, sehen die Chancen ohne eine professionelle Personalgewinnung gleich nochmal schlechter aus.

Der Teufelskreis der Fluktuation

Zurück zu Ihnen und Ihrer dezimierten Mannschaft. Das Problem bei den ganzen Kündigungen und Fehlzeiten ist, dass die Arbeit ja weiterhin irgendwie erledigt werden muss. Und es ist der Job des Managers, dafür zu sorgen, dass eben das gelingt. Sie schauen sich Ihre Truppe an und versuchen eine Lösung zu finden, um die To-dos am besten zu verteilen. Eine delikate Aufgabe: Wenn dabei etwas schiefgeht, droht eine Abwärtsspirale, an deren Ende der nächste Mitarbeiter das Unternehmen verlässt. Eine reduzierte Belegschaft führt zu einer höheren Belastung, diese zu mehr Fehlern, unzufriedenen Kunden und zu mehr Druck. Daraufhin steigt zunächst die interne Unruhe, dann die Fehlzeiten und schließlich die Fluktuationsquote – womit der Teufelskreis in eine neue Runde geht.

Doch es hilft alles nichts. Sie überlegen sich, wer was übernehmen könnte und was die einzelnen Mitarbeiter zum Gelingen des Unternehmens beitragen. Ob es Ihnen bewusst ist oder nicht – um Klarheit zu gewinnen, orientieren Sie sich dabei an zwei Parametern: Wollen und Können. Daraus ergeben sich 4 Konstellationen mit jeweils unterschiedlichen Implikationen für die Führung.

  • Unsere Lieblinge, die können und wollen.
  • Die hoffnungslosen Fälle. Ein Arbeitgeber nannte sie einmal „faule Zähne“: Sie wollen nicht und können nicht.
  • Die Sorgenkinder: Sie können eigentlich, wollen aber nicht. Die Frage ist, warum?
  • Jene Mitarbeiter, bei denen die Hoffnung zuletzt stirbt. Sie sind zwar nur mäßig kompetent, aber Einstellung und Motivation stimmen.

Wer lacht hat noch Reserven! Euer Ernst?

Mit diesem Schema im Hinterkopf, tappen viele Führungskräfte bei Personalengpässen in eine Falle, die zwar intuitiv nachvollziehbar ist, sich aber operativ regelmäßig kontraproduktiv auswirkt. Gretchenfrage: Wohin gehen Sie, wenn Not am Mann ist? Am liebsten doch zu Ihren besten Leuten. Diese leisten gute Arbeit und Sie wissen, dass Sie sich auf sie verlassen können. Das Problem dabei: Das geht einmal gut, zweimal und vielleicht auch drei- oder viermal. Aber irgendwann merken die guten Mitarbeiter, dass der Lohn für ihre gute Arbeit im Kern darin besteht, einen Rucksack nach dem anderen aufgeladen zu bekommen. Gleichzeitig werden die Kollegen, die Dienst nach Vorschrift verrichten, die Projekte an die Wand fahren oder sich komplett verabschiedet haben, geschont. Steigt der Druck und gehen bei der Führung Empathie und Wertschätzung verloren, droht genau das, was man gar nicht gebrauchen kann: Ihre besten Leute fühlen sich nicht als Lieblinge, sondern als Packesel. Dauert das an und wird es nicht angemessen kompensiert, und zwar sowohl auf der monetären als auch auf der zwischenmenschlichen Ebene, verlieren sie die Motivation. Da sie sich ungerecht behandelt und ausgenutzt fühlen, beginnen sie, sich etwas Neues zu suchen.

Die 4 Mitarbeitertypen und ihre ideale/bestmögliche Führung

Da sich der Rahmen nicht ändert, stellt sich die Frage, was stattdessen getan werden kann, was getan werden soll, was getan werden muss! Eine Lösung für die „faulen Zähne“ hatte Jack Welch. Als er die marode General Electric übernahm, identifizierte er jene Mitarbeiter, die dem Unternehmen mehr schadeten als nutzten und entließ über 100.000 Mitarbeiter. Danach ging es aufwärts. Sich von Mitarbeitern, die weder wollen noch können, zu trennen, ist nicht so unmenschlich, wie es zunächst klingt. Erstens kann jedem von ihnen zunächst nochmal eine Chance gegeben werden oder man schaut, ob es eine andere Position im Unternehmen gibt, zu der sie besser passen. Zweitens blühen entlassene Mitarbeiter nicht selten in einem anderen Umfeld plötzlich auf. Die Lieblinge sollte man machen lassen und ihnen Freiräume schaffen: Wenn sie nicht bis zum Anschlag belastet werden, entwickeln sie mit ihren freien mentalen Reserven regelmäßig konstruktive und innovative Lösungen, die das Unternehmen insgesamt voranbringen.

Nachdem Sie sich um die Lieblinge und die schädlichsten Mitarbeiter gekümmert haben, gilt es nun, die Potenziale der Sorgenkinder und „Hoffnungsträger“ zu heben. Für Letztere empfehlen sich Tätigkeiten, bei denen ihre Stärken, die es irgendwo immer gibt, zum Einsatz kommen. Gegebenenfalls auch über Abteilungsgrenzen hinweg. Um dem Ansatz konsequent zu folgen, können zunächst bei Gallup die Stärken des Mitarbeiters erhoben werden, um dann zu schauen, wie sich diese am besten nutzen lassen. Kritische Schwächen müssen natürlich beseitigt werden. Hilfreich sind hier Tandempartner für jene Bereiche, in denen die Hoffnungsträger Unterstützung benötigen. Ergänzend sollte ermittelt werden, wohin die Reise insgesamt geht und welche Zukunfts-Skills im jeweiligen Bereich relevant sind. Ist hier Klarheit gewonnen, können die Mitarbeiter rechtzeitig strategisch in die passende Richtung entwickelt werden. Wenn in der beschriebenen Situation Not am Mann ist, besteht eine praktikable Lösung auch darin, nicht einfach nur die Bestände umzuverteilen, sondern die Aufgaben in anspruchsvollere und einfachere Rollen zu differenzieren, um die Potenziale der stärkeren Mitarbeiter zu nutzen, sie aber nicht quantitativ zu überlasten. Gleichzeitig können so auch die Fähigkeiten der schwächeren Kollegen besser genutzt werden.

Die heikelste, aber auch vielversprechendste Gruppe stellen die Sorgenkinder dar. Das Delikate an diesen ist, dass sie früher einmal gewollt haben, jedoch irgendwann und -wo ihre Motivation verloren haben. Bei Mitarbeitern, die nicht mehr wollen, gibt es Parallelen zu enttäuschten Kunden. Der Vertrieb weiß schon lange, dass es um ein Vielfaches leichter ist, ehemalige Kunden zurückzugewinnen, als einen neuen zu überzeugen. Genauso ist es auch mit Mitarbeitern. Die Ursachen für ihren Rückzug liegen üblicherweise in verspieltem Vertrauen, nicht erwiesener Wertschätzung und enttäuschten Erwartungen. Wenn die Führungskraft es ernst meint, ist es eigentlich einfach, die Mitarbeiter zurückzugewinnen: Offene Gespräche, den Mitarbeitern wirklich zuhören und sie ernst nehmen, eine saubere Klärung der Erwartungen, ehrliche Entschuldigungen, das Eröffnen von Gestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten und eine Führung, die die Kompetenz und den Einsatz der Mitarbeiter wertschätzt, stellen praktikable zweite Schritte dar, um die Mitarbeiter wieder in den Lieblingsquadranten zurückzuholen. Warum zweite Schritte? Weil der erste Schritt in der Haltungsänderung der Führungskraft liegt. Wenn diese nicht bereit ist, ihr Mitarbeiterbild und ihre Führungsparadigmen zu aktualisieren und den neuen Rahmenbedingungen anzupassen, mündet das in halbherzigen Versuchen, die rasch als Augenwischerei entlarvt werden.

Praxistipp: Machtverhältnisse (an)erkennen und danach handeln

Die Arbeitsmärkte sind gekippt und gute Mitarbeiter können aus attraktiven Alternativen auswählen. Die Entwicklung hat gerade erst begonnen und wird sich kontinuierlich weiter verschärfen. Damit haben sich auch die Machtverhältnisse gewandelt. Der War for Talents ist vorbei. Die Talente haben gewonnen. Arbeitgeber, die auch morgen noch erfolgreich Personal gewinnen wollen, müssen dem Rechnung tragen und den Schritt zum Servant Leader, der Führung als Dienstleistung und nicht als Privileg versteht, konsequent gehen.

10 Gebote, um im Wettbewerb um die besten Mitarbeiter zu bestehen

  1. Scheren Sie Ihre Mitarbeiter nicht über einen Kamm, sondern führen Sie sie individuell, je nach Reifegrad.
  2. Lassen Sie Mitarbeiter, die können und wollen, einfach machen und schaffen Sie ihnen Freiräume, um sich zu entfalten und innovative Ideen zu entwickeln.
  3. Ziehen Sie die faulen Zähne im Team-Gebiss. Jene, die weder können, noch wollen, vergiften nicht nur die Stimmung, sondern blockieren auch die Entwicklung des Teams.
  4. Schulen Sie konsequent jene Mitarbeiter, denen es noch an Kompetenz mangelt. Bilden Sie Stärken/Schwächen-Tandems und trauen Sie Ihren Mitarbeitern etwas zu.
  5. Bemühen Sie sich ernsthaft und nachhaltig darum, jene Mitarbeiter, die nicht mehr wollen, zurückzugewinnen. Wertschätzung ist hier der Schlüssel zum Erfolg.
  6. Machen Sie sich bewusst, dass die Struktur Ihrer Organisation die Machtverhältnisse, die Kommunikation und das Miteinander prägt. Auf globaler Ebene hat sich eine Netzwerkstruktur entwickelt, bei der disruptive Neuerungen über Nacht ganze Branchen umkrempeln. Unsere Gehirne funktionieren nach einer Netzwerkstruktur. Unternehmen, die eben solche Strukturen implementieren, haben signifikant weniger Schwierigkeiten, gute Mitarbeiter zu finden und den Herausforderungen der VUCA-Welt erfolgreicher zu begegnen. Traditionelle Organisationen, die nach wie vor an pyramidalen Top-Down-Strukturen festhalten, bekommen immer stärkere Probleme und verlieren immer mehr Mitarbeiter. Finde den Fehler.
  7. Vergeben Sie Jobs nicht nach dem eierlegende Wollmilchsau-Prinzip, sondern nach dem hire for Attitude & train for Skills-Prinzip.
  8. Führen Sie Bleibegespräche.
  9. Schaffen Sie sich einen Puffer im Budget, um gute Mitarbeiter direkt einstellen zu können, wenn sie auftauchen. Wer im September mit der Einstellung warten muss, hat die Position im nächsten April noch nicht besetzt, wenn der Potentialträger irgendwo anders anheuert und sich sonst niemand findet.
  10. Professionalisieren Sie Ihr Recruiting, um Personalengpässe schnell zu schließen und machen Sie sich bewusst, dass es mehrere Dutzend Recruiting-Methoden jenseits von post & pray, der guten alten Stellenanzeige, gibt. Machen Sie Personalgewinnung zur Chefsache und straffen Sie Ihren Recruiting-Prozess. Wer wochenlang wartet, bis er eine Vorauswahl trifft, darf sich nicht wundern, wenn die besten Bewerber schon bei der Konkurrenz gelandet sind.

Fazit

Genug der Worte! Anstelle eines Fazits hier ein kleines Business-Cartoon von WorkChronicles.com, das treffend zeigt, wie immer noch viel zu häufig mit der Problematik umgegangen wird.

Über den Autor:

Christian BernhardtChristian Bernhardt ist Hochschuldozent für nonverbale Kommunikation, Kommunikationspsychologie und Kommunikation im digitalen Raum. Der Fachbuchautor hält Vorträge und Hybrid-Trainings zu den Themen Recruiting sowie Wertschätzende Kommunikationskultur und berät dazu Unternehmen in Deutschland und der Schweiz.

[1] https://www.handelsblatt.com/karriere/recruiting-93-prozent-mehr-hr-stellen-als-vor-corona-so-hart-trifft-der-recruitermangel-deutschlands-unternehmen/28079544.html

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