Im klassischen Mentoring kümmert sich ein Dienstälterer um eine noch weniger kundige jüngere Person, damit diese sich in vordefinierten Bereichen weiterentwickeln kann. Im Reverse Mentoring funktioniert das genau andersherum: Der Junior „coacht“ den Senior auf solchen Themengebieten, die „Jung“ besser kann als „Alt“. So entsteht eine lernende Organisation, die zukunftsfit macht.
Ziel des Reverse Mentoring ist es, die digitale Fitness im Unternehmen insgesamt zu erhöhen, Prozesse und Strukturen zu verjüngen, altgewohnte Denk- und Arbeitsweisen an die Erfordernisse der Zukunft anzupassen sowie ältere Kollegen, Führungskräfte und das Topmanagement mit der Lebenswelt der Millennials besser vertraut zu machen.
„Wir wollen mit dem Programm eine Brücke zwischen jungen und älteren Mitarbeitern bauen und deren Zusammenwirken verbessern. Wenn jede Generation in ihrer Ecke verharrt, entstehen keine Neuerungen“, erklärt Christine Jordi als Head of Diversity and Inclusion bei der Credit Suisse. Dort trafen sich seit 2012 jeweils bis zu 34 Tandems insgesamt sechs Mal im Rahmen eines halbjährlichen Durchgangs.
Für jedes Unternehmen geeignet
Bislang haben vor allem Konzerne und Großunternehmen wie IBM, Henkel, Merck, Bosch, Continental, die Allianz, die Lufthansa und neben der Credit Suisse auch die Bank Austria Reverse-Mentoring-Programme aufgelegt. Das Konzept eignet sich natürlich auch für mittelständische und kleinere Unternehmen. Diese stehen genauso wie die Großen vor den vielfältigen Herausforderungen durch die digitale Transformation. Und sie müssen sich mit den neuesten gesellschaftlichen Entwicklungen ebenfalls auseinandersetzen.
Grundsätzlich ist dabei zu beachten: Zwischen Mentor und Mentee darf keine Konkurrenzsituation und auch keine hierarchische Abhängigkeit bestehen. Zuverlässigkeit, Integrität, Offenheit und Ehrlichkeit sind ein Muss. Zudem braucht es Freiwilligkeit auf beiden Seiten verbunden mit absoluter Diskretion. Die Akteure müssen menschlich zueinander passen sowie Vertrauen und Respekt füreinander empfinden. Sie betrachten sich als gleichwertig und begegnen sich auf Augenhöhe.
Der Mehrwert für das Unternehmen
In den meisten Organisationen gibt es einen anhaltenden Lernbedarf für digitale Nachzügler. Das hat mit Vorbehalten, mit persönlichem Desinteresse, aber auch mit der rasanten Entwicklung der Digitalwirtschaft und den knappen Zeitbudgets in den oberen Etagen zu tun. Der Dialog zwischen Jung und Alt zu unterschiedlichen Ansätzen und Standpunkten über Generationen und Hierarchien hinweg kann die Unternehmenskultur insgesamt befruchten und das Verständnis füreinander verbessern.
Der Wissenstransfer wird optimiert und die Lernpyramide auch mal auf den Kopf gestellt. Zudem wird eine größere Aufgeschlossenheit für Zukunftsthemen erreicht und der digitale IQ im gesamten Unternehmen gesteigert. Werden neben den eigenen Digitalprofis auch Ehemalige in das Programm involviert, finden diese womöglich den Weg zurück ins Unternehmen. Schließlich kann Reverse Mentoring ein Alleinstellungsmerkmal für das Employer Branding sein und sollte deshalb aktiv vermarktet werden.
Der Mehrwert für den Mentor
Die Mentoren, die aus dem Kreis der Auszubildenden, Berufseinsteiger und High Potentials rekrutiert werden können, erfahren durch ihren Einsatz eine hohe Wertschätzung. Sie bekommen Sichtbarkeit im Unternehmen, verbreitern ihre fachlichen und zwischenmenschlichen Kompetenzen, erweitern ihr persönliches Netzwerk, gewinnen direkten Zugang zur Unternehmensspitze und pushen damit auch ihren Karriereweg.
Sie erlangen Verständnis für die andere Seite und Respekt vor dem, was in früheren Jahren unter ganz anderen Umständen geschaffen worden ist. Ferner erhalten sie detaillierte Einblicke in das klassische Management und lernen ihrerseits vom Mentee. Zudem sammeln sie während ihrer Mentorentätigkeit einen Erfahrungsschatz, der für jede Art von Projektarbeit von Nutzen sein kann.
Der Mehrwert für den Mentee
Natürlich kann man private Internetnutzungsfragen mit den eigenen Kindern besprechen, wenn diese im passenden Alter sind. Im Reverse Mentoring hingegen geht es um den betrieblichen Kontext. Es ist ein sanftes Programm, das gegenüber klassischen Weiterbildungskonzepten viele Vorteilen bietet. So können unter vier Augen auch solche Fragen zur Sprache kommen, die man in einer Trainingssituation vor versammelter Mannschaft nie stellen würde, um sich keine Blöße zu geben.
Zudem kann die digitale Medienkompetenz individuell und punktuell verbessert werden. Etwaige Technologieblockaden, die oft auf Unsicherheit basieren, können gelöst, Veränderungsängste abgebaut, festgefahrene Gedankengebäude gelockert und Generationenvorurteile beseitigt werden. Der Mentee kann von der unverstellten Wahrnehmung der jungen Kollegen profitieren und neue Sichtweisen gewinnen. Schließlich kann es auch darum gehen, wie die Millennials geführt werden wollen, um so die eigenen Leadership-Kompetenz zu optimieren.
Reverse Mentoring als Kulturbefruchter
Das klassische Mentoring entspringt der alten Topdown-Denke. Es impliziert ein ungleiches Gönner-Schützling-Verhältnis, Protegé werden die Mentees dort oft auch genannt. Das Reverse Mentoring hingegen entspricht dem Sharing-Ansatz von Geben und Nehmen, bei dem am Ende beide Seiten profitieren.
Denn im Idealfall kann sich ein Tandempaar gegenseitig coachen, also gleichzeitig voneinander und miteinander lernen. Junges Wissen und wertvolle Managementerfahrungen werden dabei getauscht. Solche Perspektivwechsel schärfen den Blick für alternative Lösungsmodelle, erweitern den Horizont und sorgen für neue Vorgehensweisen.
Kollektives Wissen wird angezapft, bereichert, professionalisiert und freigiebig weitergereicht. Insofern ist das Reverse Mentoring ein hervorragendes Tool, um eine lernende Organisation aufzubauen. Es nutzt vorhandenes Wissen, ganz egal, wo es herkommt, um sich fit für die Zukunft zu machen. Ganz abgesehen davon ist es eine sehr kostengünstige Form der freiwilligen Mitarbeiterentwicklung.
Eine lernende Organisation aufbauen
„Beim Reverse Mentoring geht es darum, in der Hierarchie eines Unternehmens gezielt von unten nach oben Wissen und Erfahrungen weiterzugeben“, bekräftigt Michael Heuser, Professor für Internationales Management an der Fachhochschule der Wirtschaft in Paderborn. „Dabei lernen nicht nur Individuen, sondern die Organisation als Ganzes.“
Darüber hinaus wird das gegenseitige Verstehen gefördert. Denn so, wie es den „Alten“ nicht leichtfällt, sich in die junge Welt hineinzudenken, so fällt es den Juniors mitunter schwer, zu verstehen, warum die Seniors so ticken, wie sie es tun. „Jungspunde“ neigen ja ganz allgemein gerne dazu, alles anders zu machen, quasi das Rad ständig neu zu erfinden und die nützlichen „alten Weisheiten“ einfach zu ignorieren.
So führt mangelnde Wertschätzung für das Lebenswerk früherer Generationen nicht selten zu Unverständnis und Zwist. Allerdings sind die Young Professionals ausgesprochen lernbereit. Zudem sind sie an klassischem Mentoring sehr interessiert. Über zwei Drittel könnten sich Unterstützung durch einen Mentor vorstellen. Zwei von zehn Millennials wünschen sich diesen sogar explizit, fand die „World of Work“- Studie von Monster heraus.