Zukunft entsteht, wenn Beziehungen gelingen. Dazu braucht es menschliche Nähe. Je größer der Digitalisierungsgrad, desto mehr Aufmerksamkeit braucht der Mensch. Künstliche Intelligenzen können das Leben und die Arbeit erleichtern. Doch keine noch so brillante Technologie kann die Kraft guter persönlicher Beziehungen ersetzen.
„Wenn künstliche Intelligenz unsere Aufgaben übernimmt, wird Menschlichkeit unser neues Alleinstellungsmerkmal“, schreibt Miriam Meckel, Herausgeberin der Wirtschaftswoche, in einer ihrer Kolumnen. Ergo geht es in Zukunft nicht nur um die technologische Weiterentwicklung, sondern auch darum, alles zu stärken, was den Menschen menschlich macht. Eine humanorientierte Digitalökonomie ist die Antwort.
Menschen laufen immer dann zur Hochform auf, wenn es um kontextbezogene frische Herangehensweisen geht. Menschen punkten mit Humor, Fantasie, Empathie, Intuition, Impulsivität, Spiritualität, mit dem Spiel der Sinne, mit Fingerspitzengefühl, Improvisationstalent, Verhandlungsgeschick, gesundem Menschenverstand. Und mit der Lust am Sozialen, das, was der Anthropologe Lionel Tiger „Sociopleasure“ nennt.
Viel anfänglich Begeisterndes aus dem digitalen Paralleluniversum gehört für uns eh schon so sehr zum Alltag, dass es wie selbstverständlich in den Hintergrund rückt. Lebensqualität schiebt sich fröhlich nach vorn. Dabei wird das Beste aus beiden Welten, also das Reale mit dem Virtuellen nach Lust und Laune gemixt. Genau das müssen auch die Anbieter tun.
Das neue Neue: die Rückbesinnung auf die Offline-Welt
Leider vergessen im aktuellen Digitalisierungsrausch vor allem die eingefleischten Technokraten und Online-Strategen, dass ein Großteil unseres Lebens immer noch Offline spielt. Lebensqualität ist dort, wo man fußläufig oder radelnd einkaufen kann und unter Menschen seinen Café Latte, einen Aperol Spritz oder ein kühles Bierchen genießt – am liebsten draußen im Sonnenschein.
Ein persönliches Treffen ist immer wertvoller als ein Internet-Chat. Das Physische hat also noch lange nicht ausgedient. Ganz im Gegenteil. „Mich interessiert das wahre Leben viel mehr“, bestätigt mir Julian, 14, ein YouTube-Star aus der Gamer Community. So ist es, Julian: Das pralle Leben ist spannender als jedes Spiel im Web.
Parallel zur fortschreitenden Digitalisierung entsteht zunehmend der Wunsch nach Körperlichkeit. Multisensorische Offline-Geschehnisse bergen eine Intensität in sich, die wir Online einfach nicht erreichen können. Erlebnisse, die alle Sinne berühren, lassen unser Hirn leuchten. Multiple sensorische Erfahrungen sorgen für ein Feuerwerk der Gefühle. Und dies wiederum führt zu mehr Aufmerksamkeit, zu einem höheren Erinnerungswert und zu mehr Engagement.
Digital Detox: die neue, rare Kostbarkeit
Den größten Teil unseres Lebens sind wir in der Kohlenstoffwelt unterwegs. So haben clevere Internetanbieter längst erkannt, dass sie sich auch Offline präsent machen müssen. Und sie haben verstanden, dass sie ihre Kunden nicht über Algorithmen am besten kennenlernen, sondern indem sie sie im wahren Leben beobachten und mit ihnen plaudern.
Wir sind eben nicht aus Bits und Bytes, sondern aus Fleisch und Blut. Digitale Ermüdung macht sich zunehmend breit, denn das Web ist wie auf Speed. Doch „von Zeit zu Zeit muss man der Eile Einhalt gebieten, damit die Seele nachkommen kann“, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Wer die besten Ideen finden will, braucht Entschleunigung, Freiraum und Frischluft im Kopf.
Nichterreichbarkeit – und damit die Kontrolle über seine eigene Zeit – wird zu einer neuen Kostbarkeit. Cyber-Auszeiten liegen im Trend. Digital Detox Camps, in denen man in einen digitalen Kurzentzug geht, entstehen nun allerorts. Klöster ebenso wie ausgewählte Hotels lassen sich dafür bezahlen, vollkommen internetfreie Zonen zu haben.
Hemmschwellen sinken in der Anonymität
Beziehungsdichte ist überaus wichtig, weil Menschen am besten zusammenwirken, wenn sie sich sehen. Warum das so ist? Worte können lügen. In Gestik und Mimik zeigt sich die wahre Gesinnung. Dies erzeugt in uns Resonanz. Ein gutes Intuitionsradar kann das spüren und decodiert friedliche Absichten genauso wie Ruchlosigkeit.
Körpersprachliche Signale können nur bei physischer Anwesenheit wirklich gut entschlüsselt werden, weil dann alle Sinne beteiligt sind. Auch Empathie funktioniert am besten bei räumlicher Nähe. Bereits bei einem Abstand von mehr als zwei Metern lässt sie nach, wie Untersuchungen zeigen
Ethik, Werte, Moral: Die Technologie per se kennt all das nicht. Aber sie kann und muss das von uns lernen. Leider übernimmt sie sowohl das Gute als auch das Böse in uns. Doch je mehr Fakes im Web ihr Unwesen treiben, desto wichtiger wird Face-to-Face. Hemmschwellen sinken in der Anonymität. Hingegen verändert Augenkontakt das Verhalten der Menschen zum Guten.
Gegenseitige Befruchtung braucht räumliche Nähe
Inspiration entsteht durch unkomplizierte Austauschmöglichkeiten. Jede Idee wird besser und jeder Arbeitsschritt klüger, wenn man seine Gedankenrohlinge mit anderen teilt. Ein virtueller Beziehungsaufbau ist besser als nix, doch Ferne sorgt für Distanz. Studien der Boston University haben darüber hinaus gezeigt, dass körperlich anwesende Personen tendenziell positiver beurteilt werden als virtuelle Präsenzen.
Auch Vertrauen, der Komplexitätsreduzierer par excellence, entsteht durch physische Nähe. Erst, nachdem man sich leiblich nahe war, sich im wahrsten Sinne des Wortes beschnuppert und begriffen hat, kann man auch auf virtuellen Zuruf hin gut zusammenarbeiten. Wen man hingegen nicht persönlich kennt, dem vertraut man eher nicht. Und wem man nicht vertraut, mit dem macht man keine Geschäfte.
Ja, ganz ohne Zweifel: Die Zukunft wird digitaler. Zugleich muss sie aber auch menschlicher werden. Wie das im unternehmerischen Kontext zu schaffen ist? Viele Antworten dazu finden Sie in meinem neuen Buch „Die Orbit-Organisation“. Es propagiert den Übergang von einer aus der Zeit gefallenen pyramidalen zu einer zukunftsweisenden zirkulären, sehr lebendigen Unternehmensorganisation. Orbit-Organisationen sind für die vor uns liegenden Anforderungen hervorragend aufgestellt: zugleich hochrentierlich – und zutiefst human.
Autorin: Anne M. Schüller