Orte der Begegnung schaffen

Virtuelle Zusammenarbeit wird zum festen Bestandteil unserer Arbeitswelt. Wer sie über längere Zeit erlebt hat, weiß um den menschlichen Faktor, der dabei verloren geht. Wie können wir das in der Online-Zusammenarbeit vermeiden? Warum braucht Innovation die persönliche Begegnung und wie erhöhen Unternehmen den Wert der Face-to-Face-Zeit? Darum geht es in den Trends in der Zusammenarbeit 2021.

Bis vor wenigen Monaten waren sie eher die Ausnahme: Arbeitsnomaden ohne festen Schreibtisch, die mal im gemütlichen Lieblings-Café ihrer Tätigkeit nachkamen, eine Besprechung im schicken gemieteten Büro in der City einberufen hatten oder sich mit anderen Freelancern im Coworking-Space trafen. In der Zwischenzeit haben wir fast alle unseren Schreibtisch ins Homeoffice verlagert. Meetings im virtuellen Raum sind normal, ebenso wie die Zusammenarbeit mittels digitaler Kollaborationstools. Zugegeben, nicht für jeden ist dieses ungebundene Arbeiten etwas. Die Freiheit bringt mehr Verantwortung mit sich: Die unablässige Fähigkeit, sich selbst gut organisieren zu können und mit den Kollegen in Kontakt zu bleiben. Haben wir diese Hürden allerdings erst einmal gemeistert und genießen die Möglichkeiten, hat es das altehrwürdige Büro vielleicht sogar schwer, uns von seiner Daseinsberechtigung zu überzeugen. Bei der Entscheidung „für oder wider Büro?“ wird ausschlaggebend sein, was uns dazu einlädt, an den Ort der Begegnung zurückzukehren.

  1. Das Büro als Ort der Begegnung

Unternehmen werden Räume zukünftig so gestalten müssen, dass sie eine Sogwirkung erzielen, einen echten Mehrwert bieten. Denn wenn jeder die Freiheit hat, dort zu arbeiten, wo er will, braucht er keinen fest zugewiesenen Schreibtisch im Büro. Es sind die Kollegen und Mitarbeiter, die wir brauchen, um unseren Teil der Arbeit gut oder sogar besser zu erledigen. Es ist der persönliche Austausch, der Projekte schneller voranschreiten lässt. Es ist die Kultur, die Stimmung, die einen idealen Austausch, ein kreatives Miteinander, innovative Ideen und wirksame Entscheidungen fördert. Und dabei muss die Büroinfrastruktur unterstützen. Der Trend geht zum Activity Based Working. Das bedeutet, dass für jede Anforderung die am besten geeignete Arbeitsumgebung geboten wird.

Damit die Suche nach einem Besprechungsraum nicht zur Kollaborationsbremse wird, braucht es Bereiche, die eine lebendige und kreative Kommunikation fördern und Kollaboration unterstützen. Spontane Zusammenarbeit, Stand-Up-Meetings, Präsentationen, Seminare und Workshops oder das Gespräch in kleiner, informeller Runde – all das muss einfach zu realisieren sein. Natürlich bedarf es nach wie vor auch ruhigere Bereiche für Aufgaben, die Konzentration erfordern und Telefonzellen für ungestörte Gespräche. Schließlich hat nicht jeder das perfekte Homeoffice.

  1. Serendipität als Nährboden für Spitzenleistung und Innovation

Serendipität bezeichnet eine zufällige Wahrnehmung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist. Das ist der Fall, wenn wir auf dem Gang zur Kantine in einem zufälligen Gespräch einen Gedankenimpuls erhalten, der uns auf eine neue Idee bringt. In der virtuellen Zusammenarbeit kommt diese soziale Zufälligkeit fast komplett zum Erliegen. Unternehmen, die auf Innovation angewiesen sind, werden ihre Mitarbeiter immer wieder aus dem Homeoffice holen müssen, um diese zufällige Begegnung zu ermöglichen und ihre Gebäude entsprechend gestalten.

Steve Jobs plante Pixars Headquarter als ein Gebäude, das um ein zentrales Atrium herumgebaut wurde. Alle Räume, die von unterschiedlichen Menschen aufgesucht werden wie Meetingräume, Cafeteria, Kantine und Toiletten, verlegte er ins Atrium. Dies führte dazu, dass die Mitarbeiter lange Wege zurückzulegen haben und dabei zwangsläufig auf andere Menschen treffen. Genau diese zufälligen Treffen führen neben Gedankenblitzen oft zu schnelleren und besseren Ergebnissen als Meetings.

Das Gebäude 20 des MIT ist eine Legende in Sachen Innovation. 1942 wurde das Gebäude als Behelfsunterkunft aus einem Holzrahmen verkleidet mit Asbestschindeln für das aus allen Nähten platzende Strahlen-Laboratorium gebaut. Eigentlich sollte es nach Ende des Krieges abgerissen werden. Wegen Platznot wurde das Gebäude 20 aber zu Büros umfunktioniert. Das Maß an sozialer Serendipität war extrem hoch. Die Enge ließ die verschiedenen Disziplinen auf Tuchfühlung gehen. Die Nummerierung der Räume und Flügel folgte keinem logischen Muster, sodass auch langjährige Nutzer sich immer wieder verliefen. Wer das Eisforschungslabor suchte, musste am Rekrutierungsbüro des Militärs vorbeigehen. Studenten, die auf dem Weg waren, um im Tech Model Railroad Club mit Spielzeugeisenbahnen zu spielen, schlenderten durch Gänge, die mit den neuesten Computerexperimenten gefüllt waren. Der dadurch entstehende Wissens-Spillover führte zu vielen grundlegenden Entdeckungen und Durchbrüchen, von den Fortschritten in der Hochgeschwindigkeitsfotografie bis hin zur Entwicklung der Mikrowellenphysik.

Es genügt also nicht, die Mitarbeiter einfach wieder in ihre alten Büros zu setzen. Die Wahrscheinlichkeit sich zu begegnen muss aktiv erhöht werden. Dazu gehört sowohl die Frage, wie verschiedene Bereiche gemischt werden können als auch, wie die Gestaltung und Anordnung der Büroräume dazu beitragen kann.

  1. Interdisziplinarität – ein sich Annähern führt zu Lösungen

Der wissenschaftliche Fortschritt hat nur noch Probleme offengelassen, die unglaublich schwer zu lösen sind. Forscher sind einerseits gezwungen, sich immer mehr zu spezialisieren, weil das menschliche Gehirn nur eine begrenzte Menge an Informationen verarbeiten kann. Zugleich müssen die Experten zusammenarbeiten, denn die Herausforderungen liegen in den Schnittpunkten der Disziplinen. Und das gilt nicht nur für die Wissenschaft, sondern für praktisch jeden Wirtschaftszweig. Vor hundert Jahren konnten die Gebrüder Wright ganz allein ein Flugzeug bauen. Heute braucht Boeing Hunderte von Ingenieuren, nur um die Triebwerke zu entwerfen und zu produzieren.

Die zunehmende Komplexität des menschlichen Wissens, gepaart mit der steigenden Schwierigkeit der zu lösenden Probleme, bedeutet, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit weiter zunehmen muss. Und auch erfolgreicher ist: Früher waren die am häufigsten zitierten Studien auf einem bestimmten Fachgebiet das Produkt eines einsamen Genies wie Einstein oder Darwin. Heute, unabhängig davon, ob Forscher Teilchenphysik oder Humangenetik studieren, werden wissenschaftliche Arbeiten mehrerer Autoren mehr als doppelt so häufig zitiert wie die von Einzelpersonen. Und dabei geht es nicht nur um die Zusammenarbeit der sogenannten exakten wissenschaftlichen Disziplinen untereinander. Auch Kunst und Naturwissenschaft nähern sich an. Wieder, denn zu Zeiten Leonardo da Vincis war es nicht außergewöhnlich, künstlerisches und naturwissenschaftliches Schaffen zu vereinen.

In der künstlerischen Forschung soll heute ein wissenschaftsähnlicher, methodisch geleiteter Rechercheprozess im Mittelpunkt stehen. Und in den Naturwissenschaften wird man sich zunehmend bewusst, dass Forschungsergebnisse auch Gegenstand von gesellschaftlichen Diskursen und künstlerischen Deutungen sein können. Beide Bereiche können voneinander lernen und sich gegenseitig bereichern. Das stellt höhere Anforderungen an die sozialen Fähigkeiten in der Zusammenarbeit. Es geht darum, andere Perspektiven und Herangehensweisen wertschätzend mit offenen Armen und Gehirnen zu empfangen und daraus gemeinsam Lösungen und Innovationen zu schaffen. Und es geht für die einzelnen Disziplinen auch darum, durchlässiger zu werden, mehr den Austausch zu suchen – vor allem in den Unternehmen.

  1. VR/AR in der Zusammenarbeit

Wenn Menschen im gleichen Raum zusammenarbeiten, entsteht bei jedem ein Bewusstsein für die Interaktion der Anwesenden mit dem Arbeitsbereich und den darin befindlichen Gegenständen: Wer sich im Arbeitsbereich aufhält, wo er arbeitet, was er tut und was er als nächstes zu tun gedenkt. Dieses Bewusstsein für den Arbeitsraum reduziert den Aufwand für die Koordination von Aufgaben und Ressourcen, hilft den Menschen, sich zwischen individuellen und gemeinsamen Aktivitäten zu bewegen, bietet einen Kontext, in dem sie die Äußerungen anderer interpretieren können, und ermöglicht die Antizipation der Handlungen anderer vorhersehen zu können.

Beim Arbeiten auf Distanz fehlt genau das. Teams beginnen das Gefühl füreinander zu verlieren. Die Zusammenarbeit nimmt ab. Um dem entgegenzuwirken, werden für die Arbeit auf Distanz Büros digital nachgebildet. Auf einen Blick können wir alle Teamkollegen sehen, was etwas von der Einsamkeit der Fernarbeit nimmt. Bei Arbeitsbeginn loggt sich der Mitarbeiter in das gemeinsame Büro ein. Mit dem Status wird signalisiert, ob man ansprechbar ist oder nicht. Für die Kollegen besteht dann sogar die Möglichkeit, einfach in das Büro der anderen Person zu gehen und ein Gespräch zu beginnen. Dadurch entstehen mehr Natürlichkeit und Spontanität in der Kommunikation. Die Darstellung der Teammitglieder erfolgt über Fotos oder simple Avatare.

Einen Schritt weiter gehen Angebote, die VR-Brillen und lebensechte 3D-Avatare nutzen. So können Teammitglieder gemeinsam in einem virtuellen Meetingraum das Whiteboard benutzen, Post-its an die Wände kleben und zeichnen. Und zwar mit dem Bewusstsein darüber, wie die anderen Anwesenden sich im Raum bewegen und die Gegenstände nutzen. Noch etwas weiter in der Zukunft dürfte die Realisierung des Plans eines koreanischen Unternehmens liegen: Telepräsenz-Telefonate mit Hologrammen zu ermöglichen.

  1. Selbstorganisierte Mannschaften

Enge Führung behindert den Workflow und funktioniert nicht. Das mussten Führungskräfte während des Lockdowns sehr deutlich erfahren. Und Mitarbeiter, die es schätzen, genau gesagt zu bekommen, was sie wie tun sollen, ebenfalls. Durch das Kontrollvakuum ist Raum für Selbstorganisation und Eigeninitiative in der Zusammenarbeit entstanden. Unternehmen, in denen dieser Raum zugelassen und genutzt wird, kommen besser durch Krise und Veränderung als andere. Der größte Teil unserer Arbeitswelt wird auch in Zukunft nicht berechenbar sein.

Dem kann nur durch den „Bau“ von Mannschaften, also interdisziplinären Teams, begegnet werden, die sich selbst organisieren und flexibel auf die wechselnden Anforderungen reagieren. Die wichtigste Aufgabe für Unternehmen und Führungskräfte ist es, zu erkennen, welche Aufgaben wie bisher im hierarchischen Setting und durch Arbeitsteilung abgearbeitet werden können und für welche Aufgaben Kollaboration, also echte Zusammenarbeit, und Strukturen für Selbstorganisation erforderlich sind.

  1. Menschlichkeit

Ähnlich wie bei einer Freundschaft auf Distanz, ist die Pflege der Beziehung in der virtuellen Zusammenarbeit das A und O. Aus der Ferne ist es viel leichter, eine Beziehung abzubrechen oder einen Kontakt im Sande verlaufen zu lassen. Der Abbruch von Seiten des Mitarbeiters muss auch gar nicht in einer Kündigung münden. Schon das Gefühl mangelnder Zugehörigkeit drückt auf die Motivation und führt zu mangelndem Engagement. Eine kürzlich von der Justus-Liebig-Universität Gießen durchgeführte Studie zeigt, dass besonders ältere Beschäftigte vom positiven sozialen Kontakt zu ihren Kollegen profitierten. Ihre Arbeitsmotivation sowie die soziale Achtsamkeit und Fähigkeit zur Empathie steigen durch die positiven Kontakte im besonderen Maße.

Wer eine Beziehung pflegen will, muss sich sehr gut überlegen, wie er die emotionale Basis nährt. Das setzt vor allem Interesse am anderen und die Bereitschaft zum echten Austausch voraus. Wie holt man den Gesprächspartner emotional ab, versetzt sich in ihn hinein und transportiert auch eigene Gefühle? Im hochdigitalen Umfeld erlebt emotionale Intelligenz eine Renaissance.

Die Fähigkeit, Beziehungen zu gestalten über Distanz oder bei den mittlerweile zur Ausnahme gewordenen persönlichen Begegnung, wird zum zentralen Erfolgsfaktor – nicht nur für Führungskräfte und Key-Account-Manager.

Buchtipp:

Ulrike Stahl: So geht WIRTSCHAFT! Kooperativ. Kollaborativ. Kokreativ.

Über die Autorin:

stahl_portraitUlrike Stahl ist eine gefragte Rednerin – auf der Bühne und online – Autorin und Expertin für Zusammenarbeit und das neue WIR im Business. Sie moderiert live oder remote Zukunfts-Cafés sowie Meetings mit Liberating Structures. Wie geht konkurrenzlos erfolgreiche Zusammenarbeit? Wie entwickeln wir eine WIR-Kultur für uns selbst, in unseren Unternehmen und Verbänden? Darauf gibt sie Antworten, die wirken. Sie ist Autorin des Buches „So geht WIRTSCHAFT! Kooperativ. Kollaborativ. Kokreativ.“ – laut Handelsblatt eines der besten Wirtschaftsbücher.

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