Soeben las ich mal wieder einen Artikel, genauer gesagt ein Interview in Wirtschaftswoche.de zum Thema New Work mit der Überschrift „Niemand kann sich acht Stunden konzentrieren“.
In ihm wird Lasse Rheingans, der Inhaber bzw. Geschäftsführer der Agentur RHEINGANS DIGITAL ENABLER, Bielefeld, interviewt, der in seinem Unternehmen die 25-Stunden-Woche eingeführt hat – „bei vollen Gehalt“.
In diesem Unternehmen werden laut Wirtschaftswoche.de, um „die Arbeit von 8 Stunden derart zu verdichten, alle potenziellen Ablenkungen vermieden“: Die Mitarbeiter „arbeiten einen Wochenplan ab, nutzen keine privaten Smartphones und chatten nicht, es gibt keinen Kaffeeküchentratsch und keine Social Media am Rechner. Gefragt sind volle Konzentration auf die gesetzten Ziele. Zum Lohn gibt es bei Vollzeit-Gehalt einen frühen Feierabend – und freiwillige Teamtreffen zum Mittagessen nach der Arbeit.“
Und wie sollte es anders sein, selbstverständlich hat der Inhaber der Agentur, der auch Speaker zum Thema New Work ist, über dieses Arbeitszeitmodell ein Buch geschrieben. Sein Titel: „Die 5-Stunden-Revolution – Wer Erfolg will, muss Arbeit neu denken“. In ihm erklärt Rheingans, laut Verlagsangaben, warum ein 5-Stunden-Tag wie in seinem Unternehmen zukunftsweisend ist.
Ich hätte noch ein paar Fragen an die New-Worker…
Gelesen habe ich das im Campus Verlag frisch erschienene Buch (noch) nicht, weil mich offen gesagt, die oberflächlichen Artikel über dieses in der Zeit, der Wirtschaftswoche, der Bild-Zeitung usw. schon nervten. In ihnen fragte kein Journalist zum Beispiel mal nach:
- „Und wieviel Geld zahlen Sie nun Ihren Mitarbeitern für eine (25-Stunden-)Voll-Zeit-Stelle? Dieselben ‚Hungerlöhne‘ wie viele andere Agenturen oder…?“ Und:
- „Sind die Mitarbeiter sozialversicherungspflichtig bei Ihnen beschäftigt oder sind diese weitgehend ‚Freelancer‘?“
- „Wieviel Urlaubstage haben Ihre festangestellten Mitarbeiter pro Jahr? 30 Tage oder nur die gesetzlich vorgeschriebenen 20 Tage wie in vielen Agenturen?“ Und:
- „Wie ist die Altersstruktur Ihrer Mitarbeiter? Handelt sich bei ihnen weitgehend um Studenten und junge Mütter, die ohnehin nur maximal 25 Stunden die Woche arbeiten möchten oder dürfen oder sind sie die ‚Haupternährer‘ ihrer Familien?“ Und:
- „Wie viele Praktikanten sind unter Ihren Mitarbeitern?“
… und wo bleiben die Freiräume zum kreativen Arbeiten?
Da mich das interessierte, schaute ich mal auf die Webseite von RHEINGANS DIGITAL ENABLER. Mein Eindruck: Von den dort abgebildeten 16 MitarbeiterInnen sind außer dem Geschäftsführer maximal zwei, drei knapp über 30. Entsprechend groß dürfte der Anteil der Noch-Studierenden, Praktikanten und jungen Mütter sein.
Und kein Journalist fragte mal kritisch nach, wenn wie zum Beispiel in wirtschaftswoche.de der Buchautor zum Thema „New Work“ einerseits sagt: „Es geht gar nicht so sehr um die Zeit, sondern um die Einstellung zur Arbeit. Die sollte ergebnisorientiert sein. Kreative Prozesse kann man nicht in Zeit ausdrücken, der eine arbeitet schnell, der andere langsam.“ Und andererseits einige Abschnitte weiter: „Ich frage aber regelmäßig nach, ob alle noch bereit sind, den Preis (für dieses Arbeitszeit- und Entlohnungsmodell – Anmerkung) zu bezahlen. Und der ist: diese Arbeit ist extrem anstrengend, denn man erledigt in fünf Stunden so viel wie anderswo in acht. Jeder muss enormen Einsatz und Energie investieren….“ Wo bleiben da die Freiräume, die man – wie ich mal hörte – zum kreativen Arbeiten braucht?
„New Work“ oder moderne (Selbst-)Ausbeutung?
Wenn ich so etwas lese, dann frage ich mich: Ist das nicht eine neue Form der – scheinbar freiwilligen – (Selbst-)Ausbeutung, die jedoch verkaufsfördernd mit einem New-Work-Mäntelchen umhüllt wird? Fragen über Fragen.
Klar ist mir jedoch: Dies ist nicht die Arbeitsform, die ich mir für mich selbst und meine Mitarbeiter wünsche – gerade, weil sich niemand acht Stunden konzentrieren kann (und auch nur fünf Stunden schwer am Stück). Gerade deshalb möchte ich keinen Arbeitstag, der so verdichtet ist, dass ich nicht auch mal
- „tratschen“ kann,
- eine Zigarette vor der Tür rauchen kann,
- den Sportteil in der Zeitung durchblättern kann oder
- eine Partie „Internet-Backgammon“ spielen kann,
wenn ich das Gefühl habe „Ich brauche diese Auszeit bzw. diesen Abstand jetzt“.
Im Gegenteil! Ich erachte es zuweilen sogar als meine Pflicht als Vorgesetzter, den Tratsch bzw. das Gespräch über Dinge, die nichts mit der Arbeit zu tun haben, und das gemeinsame Kaffee-Trinken in meinem Büro zu stimulieren. Und selbstverständlich sollen meine Mitarbeiter während ihrer Arbeitszeit mal mit ihrem Partner telefonieren können oder eine WhatsApp-Nachricht von ihren Kindern lesen können. Alles andere wäre aus meiner Warte inhuman bzw. würde ihrer Lebenssituation nicht gerecht; außerdem würde es weder die Effektivität, noch die Kreativität fördern, sondern nur den Arbeitsdruck erhöhen.
New-Work-Propagandisten sind keine Vorbilder
Solche Arbeitsformen und Arbeitszeitmodelle wie bei RHEINGANS DIGITAL ENABLER mögen aufgrund der Mitarbeiterstruktur und Arbeitsinhalte im Einzelfall durchaus ihre Berechtigung haben. Dass die Medien sie jedoch zu Vorbildern für die Wirtschaft hochjubeln, ist Quatsch, denn das sind sie nicht. Denn bei einem näheren Hinsehen handelt es sich bei den „gelobhuddelten“ Unternehmen in der Regel um Digital-Agenturen oder Beratungsunternehmen, die maximal ein, zwei Dutzend Mitarbeiter beschäftigten (bzw. so viele Namen auf ihrer Webseite stehen haben), die sich gerne als Berater in Sachen „New Work“ profilieren möchten.
Als Vorbilder für die „Arbeit von morgen“ in größeren Unternehmen, deren Belegschaften viel heterogener sind, taugen sie meist nicht – auch weil bei einer solchen Arbeitsverdichtung wie bei RHEINGANS DIGITAL ENABLER keine emotionale Bindung ans Unternehmen entsteht. Vielmehr reißen die Mitarbeiter, so meine Vermutung, im Idealfall hochkonzentriert ihre fünf Stunden herunter, und dann verlassen sie mit einem Seufzer der Erleichterung das Büro. Deshalb nach eine Frage an die New-Work-Propagandisten: „Wie lange ist die Verweildauer der Mitarbeiter in Ihrem Unternehmen?“
Autor: Bernhard Kuntz