Die Szene der „Speaker“ und „Möchte-gern-Speaker“ hat offensichtlich einen neues Selbst-Attribut für sich entdeckt: „Evangelist“. Fraglich ist nur, wer Evangelisten braucht.
Die Szene der Speaker und Möchte-gern-Speaker, die gleich Motten das Rampenlicht suchen (und oft nicht finden), ist eine illustre. Dies gilt insbesondere für die Fraktion in ihr, die sich in der Vergangenheit schon gerne mit solchen Selbstattributionen wie „Querdenker“ und „Vordenker“ zierte, obwohl in der Regel niemand, der ihre Biografie liest, nachvollziehen kann, aus welchen Quellen sich diese Kompetenz speist.
Neues Selbstklebe-Etikett: Evangelist
Just dieser Personenkreis hat nun anscheinend ein neues Selbstklebe-Etikett entdeckt, das er sich gerne auf die Marketing-Stirn klebt: Evangelist. Das heißt, diese (Möchte-gern-)Speaker geben sich nicht mehr damit zufrieden „Quer- und Vordenker“ zu sein, nein, sie verkünden uns bzw. den Entscheidern in den Unternehmen nun auch „Heilslehren“.
Und wie in den biblischen Evangelien ist damit stets die Botschaft verknüpft: „Kehret um, tuet Buße, folgt mir, dem Messias, nach. Dann werdet ihr erlöst.“ Oder anders formuliert: „Liebe Zuhörer, Ihr erbärmliches Gewürm, Ihr habt bisher alles falsch gemacht. Ihr oder Eure Organisation muss sich grundlegend ändern. Insbesondere Eure Kultur bzw. Euer Mindset muss sich radikal wandeln. Geschieht dies, dann bleiben Euch nicht nur viele Höllenqualen erspart, nein dann werdet Ihr erlöst und kommt vielleicht sogar ins Paradies.“
Neues Allmittel: Neuer Mindset und Agilität
Googelt man das Wort „Evangelist“ oder gibt man bei LinkedIn die Begriffskombi „Redner Evangelist“ als Suchbegriff ein, dann zeigt sich rasch: Das Allheilmittel, das zur dieser Erlösung führt, sind nicht Gebete; nein es ist zumeist Agilität. Agilität ist der Zauberschlüssel zum Himmelreich der „disruptiven Veränderung“, „digitalen Transformation“ und „radikalen Innovation“ und zum Erreichen des „next level“ in allen Lebenslagen – und zwar unabhängig davon,
- ob eine Person als Reinigungskraft oder Produktentwickler, Vertriebler oder Controller ihr Geld verdient oder
- ob ein Unternehmen in einer automatisierten Produktion Badeschlappen produziert oder komplexe Problemlösungen für seine Kunden entwirft.
Agilität tut funktions-, bereichs- und branchenübergreifend immer gut, glaubt man zumindest den selbsternannten Evangelisten.
Statt Vor- und Quer-denken auch mal Durch-Denken
Mich nerven diese selbsternannten Evangelisten sowie Vor- und Querdenker, die voller Inbrunst ihre Heilbotschaften verkünden, dabei jedoch
- null Kompetenz im Dinge „be-denken“ und „durch-denken“ sowie zum Differenzieren zeigen und
- letztlich die Komplexität negieren,
zunehmend – vermutlich auch, weil ich bezogen auf viele (Schicksals-)Fragen, vor denen unsere Wirtschaft und Gesellschaft steht, schlichtweg keine Antwort bzw. auch nur den Ansatz einer Problemlösung weiß; zumindest keinen, der sich in einem Wort zusammenfassen ließe.
Es muss sich vieles, doch nicht alles ändern
Eines weiß ich jedoch: Viel selbsternannte Evangelisten haben nicht kapiert, dass es lerntheoretisch völlig kontraproduktiv ist, zu Menschen oder Mitarbeitern von Unternehmen zu sagen: „Ihr habt bisher alles falsch gemacht. Alles muss sich ändern“. Denn dies erzeugt fast automatisch Widerstand – zu Recht. Denn eine solche Aussage negiert nicht nur die bisherige (Lebens-)Leistung der Adressaten; sie ist auch kein Ausdruck von Wertschätzung, denn dahinter versteckt sich letztlich die Botschaft: „Ihr seid – im Gegensatz zu mir, dem Erleuchteten – alle kleine Lichter; zumindest habt Ihr Euch in der Vergangenheit so verhalten.“
Bernhard Kuntz