In der von hoher Veränderung und geringer Planbarkeit geprägten VUCA-Welt benötigen Führungskräfte zunehmend die Fähigkeit, sich und ihr Verhalten zu reflektieren und dieses neu zu justieren. Yoga fördert die Selbstwahrung und den achtsamen Umgang mit sich selbst und der eigenen Umwelt.
Vielleicht fragen Sie sich: Was hat Yoga mit „guter Führung“ zu tun? Denn auf den ersten Blick haben diese beiden Themen nichts miteinander gemein. Geht es doch beim einen Thema um körperliche Ertüchtigung und einem Zu-sich-finden und beim anderen um eine verantwortungsvolle Aufgabe, die Weitsicht erfordert und deren Ziel es ist, einen Betrieb am Laufen zu halten. Oder gibt es vielleicht eine Schnittmenge zwischen diesen beiden Themen? Oder ergänzen sie sich eventuell sogar?
Was „gute Führung“ ist, hat sich verändert
Früher beinhaltete das „gut“ beim Führen ein klares Top-down. Und der Führungsanspruch gegenüber den Mitarbeitern? Er legitimierte sich aus einem Vorsprung an Fachwissen und Information. Heute hingegen, also im digitalen Zeitalter verschwimmt dieses Hoheitsverhältnis. Neue agile Arbeitsmethoden wie Scrum zeigen: Die Qualität von Führung entsteht heute eher aus einer hohen Kompetenz im Bereich Selbstorganisation und Beziehungsmanagement; außerdem aus einer ausgeprägten Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion und regelmäßigen Beschäftigung mit der Frage: Wie kann ich, wie können wir unsere Stärken leben?
Doch genau diese Kompetenzen laufen wir Gefahr, in der digitalen Welt zu verlieren. Denn in ihr fühlen wir nicht mehr selbst unseren Puls, sondern fragen unser Handy, wie es uns gerade geht, wie fit wir sind und wann wir wieder etwas trinken sollten. Fragen wir bald auch unser Handy, wann wir als Führungskräfte unsere Mitarbeiter loben, ihnen zuhören, ihnen vertrauen sollten?
Die Führungskraft von heute führt weniger von oben: Sie steht dem Team und den Mitarbeitern beratend zur Seite. Dieses neue Führungsverständnis ist gekennzeichnet durch Schlagworte wie Selbstorganisation, Diversitätsmanagement, kollektive Intelligenz, Innovationsmanagement und Sinnstiftung. Doch welche Kompetenzen erfordert dieser Paradigmenwechsel konkret?
Selbst- und Beziehungsmanagement werden wichtiger
Untersuchungen zeigen: Die Fähigkeit zur Selbstführung und zum Managen von Beziehungen werden für „gute Führung“ immer wichtiger. Michael Schwalbach schreibt in seinem Buch „Gute Führung durch Yoga und Meditation“, dass es zum Bewältigen der genannten Veränderungen unter anderem solcher Kompetenzen wie Mut, Vertrauen, Selbstwahrnehmung und Intuition bedarf.
Fragen Sie sich einmal auf einer Skala von 1 bis 5 (1 = kaum vorhanden, 5 = sehr stark ausgeprägt), inwieweit Sie über diese Kompetenzen bereits verfügen? Hand aufs Herz, bei welchen Kompetenzen sagen Sie „Ja, diese Kompetenz ist bei mir voll ausgeprägt“, und bei welcher müssen Sie sich eingestehen: „Da dürfte es etwas mehr sein?“ Fragen Sie sich im zweiten Schritt, wie Ihre Mitarbeiter oder Ihr bester Freund/Ihre beste Freundin Sie diesbezüglich einschätzen würden und ob sich da Unterschiede auftun?
Ein „Vordenker“ auf dem Gebiet dieses Paradigmenwechsels ist Otto Scharmer mit seiner „Theory U“. Er ist der Auffassung, dass es den meisten Führungskräften nicht an Fachwissen und Fachkompetenzen mangelt; vielmehr besteht bei ihnen eine Wissenslücke bezüglich der inneren Qualitäten und ein Defizit bei deren Gebrauch. Dieses Feld auszulassen, bedeutet auch, eine der wichtigsten Ressourcen außer Acht zu lassen: nämlich die eigene Intuition.
Fähigkeit, sich zu öffnen und Neues zu wagen
Laut Scharmer sind Menschen leistungsfähiger und erzeugen bessere Ergebnisse, wenn sie sich vorurteilsfrei einer Frage oder Aufgabe stellen und diese mit neuen Augen betrachten. Das erfordert auch ein Loslassen alter und bekannter Vorstellungen. Scharmer nennt dieses Vorgehen „Sensing“: die Fähigkeit, sich zu öffnen und bei sich und seiner Umwelt etwas Neues zu erleben. Hierdurch entsteht, so sein Credo, eine neue Form des Miteinanders, und es eröffnet sich die Möglichkeit, ganz neue Antworten zu finden.
Das Unternehmen Aetna, eines der 100 umsatzstärksten Unternehmen in den USA, bietet seit Längerem für seine Fach- und Führungskräfte Meditations- und Yogakurse an. Das Feedback der Mitarbeiter lautet: weniger körperliche Schmerzen und ein geringeres Stressempfinden sowie eine deutliche Verbesserung der Schlafqualität. Zudem gewinnen die Führungskräfte eine neue Haltung zu sich und ihrer Umwelt und vertrauen wieder stärker auf ihr Bauchgefühl und ihre Intuition.
Streben nach Selbsterkenntnis und Achtsamkeit
Ein zentrales Anliegen beim Yoga ist das Streben nach Selbsterkenntnis, einer Art effektiver (Selbst-)Führung von innen. Dazu gehört auch, dass der Geist, unser sogenannter „Monkey-mind“, zur Ruhe kommt. Zudem bedarf es wie beim Coaching der Freiwilligkeit und Einsicht in die Notwendigkeit. Die Körperübungen, die sogenannten „Asanas“, sind nur ein Teil der Yoga-Praxis. Achtsamkeitsübungen und Meditation komplettieren diese.
Die Frage an dieser Stelle lautet: Wie schafft Yoga die Brücke zu den genannten Fähigkeiten wie Selbstführung und Beziehungsfähigkeit? Beim Yoga lernt man sich zu konzentrieren und fokussieren. Der Atem steht oftmals in Verbindung mit den Übungen, was den charmanten Effekt hat: Unser „Äffchen“ ist beschäftigt. Da es im Yoga nicht um ein Höher-schneller-weiter geht, sondern darum, achtsam wahrzunehmen, wo die eigenen körperlichen und mentalen Grenzen zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegen, werden wir mit der Methode der Wertfreiheit vertraut.
Die inneren Ressourcen erspüren und aktivieren
Würden wir uns ständig mit anderen vergleichen und bewerten, würde uns das im Alltag viel Kraft und Energie kosten, die wir effektiver einsetzen könnten. Und genau dies ist ein wesentlicher Bestandteil des Yogas:
- Ein urteilsfreies Wahrnehmen,
- ein Loslassen der Gedanken, die uns hindern, zu uns zu finden und weiterzukommen, und
- ein Sich-konzentrieren auf den gegenwärtigen Moment
schaffen Klarheit.
All dies unterstützt uns dabei, auf Menschen, also beispielsweise Mitarbeiter und Kunden, offen zuzugehen und richtig hinzuhören; also uns auf das zu konzentrieren, was im Moment passiert, und nicht das Gefühl der inneren Zerrissenheit aufkommen zu lassen.
Es unterstützt uns dabei, uns nicht selbst mit unseren Gedanken zu sabotieren, indem wir zum Beispiel „Worst-case-Szenarien“ erschaffen, was bei dem Projekt alles schiefgehen kann, und wer uns im Unternehmen unseren Platz streitig machen könnte.
Führungskräfte, die wachsen möchten, sollten sich auf ihre Stärken und inneren Ressourcen konzentrieren. Diese außen vor zu lassen, wäre so, wie einen Sportwagen zu fahren und maximal in dessen dritten Gang zu schalten. Yoga und Führung treffen sich gerade in den Bereichen Selbstführung und Beziehungskompetenz und bilden somit eine unschlagbare Symbiose.
Yoga-Einheiten in Führungstrainings integrieren
Seit einiger Zeit integrieren wir bei ifsm in ausgewählte (Führungskräfte-)Workshops auch Yoga-Einheiten und haben hiermit positive Erfahrungen gesammelt. So veranstalten wir zum Beispiel Anfang kommenden Jahres erneut (wie dieses Jahr) einen Workshop mit dem Titel „Hell yeah, it’s 2019“. Sein Ziel ist es, den Teilnehmern die Möglichkeit zu bieten, unter anderem ihr (Führungs-) Verhalten im alten Arbeitsjahr zu reflektieren und sich auf die Ziele und Herausforderungen im neuen Jahr einzustimmen. Dieses Loslassen und Fokussieren wird mit Einheiten aus Coaching und Yoga unterstützt.
Solche Formate, die Führungskräften die Möglichkeit bieten, sich und ihr Verhalten zu reflektieren und neu zu justieren, gewinnen in der heutigen Zeit an Bedeutung. Denken Sie einmal über entsprechende Designs nach.
Über die Autorin:
Die Diplom-Pädagogin Lisa Bastian arbeitet als Personalentwicklerin, Beraterin und Coach für das ifsm – Institut für Sales und Managementberatung, in Urbar bei Koblenz.