Oft halten Unternehmen zu lange an überholten Geschäftsmodellen fest. Sie optimieren diese immer weiter statt den nötigen Kurswechsel zu vollziehen. Das führt mittelfristig dazu, dass sie vom Markt verschwinden. Das zeigen die Beispiele vieler namhafter Unternehmen in den zurückliegenden Jahren.
Vollgas geben und zugleich die Handbremse anziehen. Disruptiv denken, doch das Bestehende nicht antasten. Mutig sein und pionierhaft handeln, aber keine Risiken eingehen. In den vergangenen Jahren sahen wir im deutschsprachigen Raum zahlreiche Beispiele von Unternehmen, die Schwierigkeiten damit hatten, sich auf die Zukunft einzustellen. Als Beispiele seien die Unternehmen Praktiker Baumärkte, Air Berlin und Schlecker genannt. Sie erlitten alle dasselbe Schicksal: Sie verschwanden vom Markt. Und vom Arcandor-Konzern, bestehend aus der Warenhauskette Karstadt, dem Versandhaus Quelle und dem Reiseveranstalter Thomas Cook, sind heute nur noch Bruchstücke übrig.
All diese Unternehmen schafften es nicht, für sich Zukunftsstrategien zu entwickeln und diese umzusetzen. Stattdessen optimierten sie das Bestehende immer weiter – mit zum Teil beeindruckenden Neuerungen und großen Erfolgen. Die Optimierungserfolge hatten jedoch eine Kehrseite: Unbewusst wurde mit ihnen nur das Bestehende konserviert.
Eines dieser Unternehmen begleitete ich Rahmen eines Projekts zur Entwicklung von Innovationen: Thomas Cook Deutschland. Das Projekt war erfolgreich, doch letztlich waren die damaligen Innovationen nur lebensverlängernde Maßnahmen. Stattdessen hätte es eines Resets, also Neustarts, bedurft basierend auf Antworten auf die Fragen:
- Lassen sich über den Vertriebskanal stationäres Reisebüro im digitalen Zeitalter langfristig überhaupt noch die nötigen Umsätze und Gewinne erzielen und wenn ja wie? Und:
- Welche mittel- und langfristige Perspektive hat das Kernprodukt des Unternehmens, nämlich (günstige) Pauschalreisen, wenn zeitgleich digitale Anbieter online individualisierte Reiseangebote schnüren und sich die Kundenbedürfnisse wandeln?
Back to the 90s …?
Rufen Sie sich mal Ihren letzten Pauschalurlaub in Erinnerung. Sie hatten diesen über einen bekannten Reiseveranstalter gebucht und wurden nach der Landung mit dem Ferienflieger in ein Touristenhotel gebracht. Was dachten Sie, als Sie dort, kaum angekommen, die Einladung zum „Willkommensempfang durch die Reiseleitung“ erhielten:
- „Welch‘ freudige Überraschung?“ Oder:
- „Schon wieder so Werbeveranstaltung, bei der versucht wird, mir einen Ausflug in eine Lederfabrik oder zu einem „einsamen Traumstrand“, an dem bei der Ankunft Dutzende von Touristengruppen lagern, zu verkaufen?
Vermutlich Letzteres! Jetzt überlegen Sie: Wann war dieser Urlaub? Vermutlich vor ein, zwei Jahren! Pauschalreisen sind also immer noch das, was man liebevoll als „Back to the 90s“ bezeichnen kann: Ein lebendiges Museum, wie Reisen früher einmal waren:
- Schlange stehen am Check-in-Schalter des kostenoptimierten Billigfliegers,
- eine mehrstündige, Transfer genannte Busfahrt von Hotel zu Hotel, um die Urlauber dort abzusetzen,
- der gewohnte Empfang durch die Reiseleitung mit Standarddrink,
- das übliche Warten auf die Rückflugbestätigung per Aushang und
- eine noch längere Schlange beim Rückflug-Check-in am Flughafen der Urlaubsdestination.
Und nicht zu vergessen die Souvenirs „Made in China“ und die Animationsabende mit einheimischer Folklore. Diese Art Pauschalurlaub sicherte jahrelang das Geschäft der klassischen Reiseveranstalter.
Dabei bietet die Digitalisierung nicht nur neue technologische Möglichkeiten, sie verändert auch die Kundenbedürfnisse radikal. Airbnb ist nicht nur ein Buchungsportal für Unterkünfte, es ist das Reiseprodukt des digitalen Lifestyles geworden. Die klassische Pauschalreise hingegen wirkt heute wie ein Relikt aus einer längst vergangenen analogen Zeit.
Thomas Cook machte vieles richtig und scheiterte
Bereits kurz nach der Jahrtausendwende habe ich mit Peter Fankhauser, dem damaligen Vorsitzenden der Geschäftsführung, und weiteren Top-Managern von Thomas Cook Deutschland Zukunftsstrategien für das Unternehmen entwickelt, denn bereits vor 20 Jahren war klar: Das Geschäft mit Pauschalreisen wird immer schwieriger. Was man Peter Fankhauser, bis 2019 CEO von Thomas Cook, nicht vorwerfen kann, ist dass er dieser Entwicklung tatenlos zugesehen hätte. Das Top-Management hat vielmehr sehr viel richtig gemacht und scheiterte trotzdem. Wie passt das zusammen?
2011 war Fankhauser der Held der Tourismusbranche, weil er die niedrigen Margen im Pauschalreisegeschäft gerade gesteigert hatte. Das Tochterunternehmen Bucher Reisen war damals das interne Silicon Valley des Konzerns: Dort wurden innovative digitale Lösungen entwickelt. Unter anderem hatte Fankhauser damals gerade eine disruptive Innovation gelauncht: Statt wie zuvor feste Hotelkontingente einzukaufen, was das Risiko erhöht, wurden die Kontingente erst gekauft, wenn der Kunde eine Reise buchte.
Für die damaligen Verhältnisse war dieses Verfahren eine kleine Sensation. Auch, dass ein Touristikkonzern nicht nur Hotels vermitteln darf, sondern eigene Marken braucht, hatte Thomas Cook erkannt. Deshalb launchte der Reiseveranstalter mit Sentido eine eigenständige Hotelmarke. Mit Erfolg!
Maxime: „Immer hinter den nächsten Berg schauen“
Fankhauser war ursprünglich Offizier der Schweizer Armee und führte den Konzern entsprechend. „Du musst immer hinter den nächsten Berg schauen“, war sein Leitmotiv. Wahrscheinlich deshalb hielt er sich bis zum Schluss an der Spitze des Konzerns. Fankhauser zögerte nicht, er packte an.
Doch ein Problem bekam er nicht in den Griff: Das Geschäftsmodell Pauschalreise ist keines, womit ein Konzern heute noch ausreichend Geld verdienen kann. Thomas Cook wurde ein Opfer des radikalen digitalen Wandels. Dieser beschränkt sich nicht nur auf die Frage des Vertriebswegs (im Falle Thomas Cook: online oder Reisebüro?), sondern er verändert auch das Konsumenten- und somit Kundenverhalten radikal.
Stellen Sie sich vor, kein Mensch möchte oder darf mehr Autofahren – was aufgrund des Klimawandels irgendwann durchaus möglich sein könnte. Dann würde den Automobilkonzernen, sofern sie die Weichen nicht rechtzeitig neu stellen, das beste Management nichts nutzen, denn ihren Markt gäbe es nicht mehr. Ähnlich verhält es sich mit Pauschalreisen. Die Menschen haben zwar noch das Bedürfnis zu reisen, doch Pauschalreisen sind nicht mehr „en vogue“.
Die Geschichte der Pauschalreise
Warum gibt es eigentlich Pauschalreisen? Kaum eine Unternehmensgeschichte zeigt dies eindrücklicher als die von Thomas Cook. Der Konzern wurde von dem Baptistenprediger Thomas Cook gegründet, der 1841 das erste Mal eine Zugfahrt für fünfhundert Reisende (damals zu einem Treffen der Abstinenzbewegung) organisierte. Vierzehn Jahre später läutete er das Zeitalter des Pauschaltourismus ein, indem er für britische Touristen eine Europarundreise organisierte. Eine seiner größten Erfindungen war der Hotelvoucher, den Sie vermutlich von Urlaubsreisen noch kennen: Ein Stück Papier, auf dem steht, dass Sie tatsächlich ein bestimmtes Hotelzimmer gebucht haben.
Dieses Geschäftsmodell entstand in einer Zeit, in der Reisen und Reisebuchungen noch etwas waren, was nicht jeder Mensch tun konnte. Erinnern Sie sich an die Neunzigerjahre, als Sie entweder noch kein Internet hatten oder vor einem piependen Modem saßen. Konnten Sie damals einfach ein Hotel in der Türkei oder in Sri Lanka buchen? Ja, sofern Sie dessen Namen kannten. Dann hätten Sie die Auslandsauskunft anrufen und sich dessen Telefonnummer geben lassen können. Danach hätten sie dort anrufen und per Fax ein Zimmer bestellen können. Das war kompliziert und risikobehaftet, da Sie ja oft keine optische Vorstellung von dem Hotel und seiner Lage hatten. Das Reisebüro um die Ecke war da die einfachere und sicherere Lösung: Seine Kataloge waren bebildert, und die Buchung war einfach.
Im Internetzeitalter ist die Pauschalreise jedoch eine Problemlösung für ein Problem, das es nicht mehr gibt. Deshalb ist sie ebenso ein Auslaufmodell wie das Faxgerät, das Warenhaus und die CD. Der einzige Vorteil, den klassische Pauschalreisen-Anbieter heute oft noch haben, ist der Preisvorteil. Wir buchen pauschal, weil es billiger ist. Genau das wurde Thomas Cook zum Verhängnis, denn: Billiger bedeutet auch eine geringere Marge und somit weniger Gewinn.
Der digitale Wandel ist oft schmerzhaft
Das Beispiel Thomas Cook zeigt, vor welchen Herausforderungen Unternehmen angesichts des digitalen Wandels oft stehen: Sie müssen einerseits das Bestehende erhalten, um den nötigen Cashflow zu haben, und dieses zugleich radikal zerstören. In meinen Büchern „Digitale Gewinner“ und „Reset: Wie sich Unternehmen und Organisationen neu erfinden beschäftige ich mich mit dieser schwer zu meisternden Herausforderung. Erfolgreiche Unternehmen schaffen es, den Widerspruch zu managen: Das Bestehende durch ständiges Optimieren so lange wie möglich am Leben zu erhalten und es zugleich durch etwas Neues zu ersetzen. Denn das wirklich Neue birgt immer ein Problem: Niemand weiß so richtig, was dieses Neue eigentlich ist.
Deshalb sind echte Innovationen, die keine Fortschreibungen des Bestehenden sind, stets mit einem hohen Risiko behaftet. Ob innovative Geschäftsmodelle jemals Gewinne abwerfen, ist oft lange ungewiss. Zudem erfordert das Entwickeln radikal neuer (digitaler) Geschäftsmodelle meist ein komplettes Umdenken.
Tourismuskonzerne sind im Kern Logistikunternehmen, die Kapazitäten einkaufen, chic verpacken und an Touristen weiterverkaufen. In diesem Bereich liegt ihre Kernkompetenz; hierin haben sie Erfahrung. Doch wirkliche Innovationen entwickeln, disruptive digitale Lösungen erfinden? Das fällt ihnen schwer.
So wie der Tourismusbranche geht es inzwischen vielen Unternehmen: Sie müssen ihre Geschäftsmodelle überdenken, ohne zu wissen,
- was das Neue sein könnte,
- wie und ob sich das Neue überhaupt rechnet und
- welche Kompetenzen sie dafür benötigen.
Dass Thomas Cook die Digitalisierung verschlief, kann man Fankhauser nicht vorwerfen. Gescheitert ist Thomas Cook daran, dass es dem Unternehmen nicht gelang, den besagten Widerspruch zu managen. Denn selbst mit der ausgefeiltesten Managementkunst lässt sich ein Geschäftsmodell, das sein Fundament verliert, nicht mehr retten. Stattdessen bedarf es eines „Resets“. Das Unternehmen muss also einen gänzlichen neuen Weg beschreiten.
Über den Autor:
Dr. Jens-Uwe Meyer ist u.a. Autor des Buchs „Reset – Wie sich Unternehmen und Organisationen neu erfinden“, das im April 2022 im Verlag BusinessVillage erschienen ist. Er ist CEO des Softwareunternehmens Innolytics AG, Leipzig, und ein gefragter Keynote Speaker im Bereich Innovation und Digitalisierung.