Machen uns Smartphones zärtlicher, weil wir sie unentwegt streicheln? Oder verfahren wir auch mit „echten“ Beziehungen künftig nach dem Motto „wisch und weg“? Nein, das ist kein Smartphone-Bashing. Das wäre billige und unnötige Erregung. Zudem falsch, weil einseitig. Aber ein kritischer Blick schärft den Sinn für ein epidemisches Phänomen.
Erst Ende 2012 scherzte der Technologieriese Cisco und bezeichnete das Smartphone als 207. Knochen im menschlichen Körper. Weil 90 Prozent der jungen Arbeitnehmer und Studierenden zwischen 18 und 30 bereits am Morgen Mails oder soziale Netzwerke eifrig mit ihrem Smartphone checken. Zuweilen noch vom Bett aus, fasziniert von der smarten Aura einer neuen Techno-Erotik.
Heute ist es längst ein altersloses Massenphänomen, auch ein klassenloses. So scheint es kaum jemand mehr zu geben, der nicht auch im öffentlichen Raum emsig Smartphone-wischend oder dauertelefonierend unterwegs ist. Bahnsteige oder Flughäfen sind hier ein besonders beliebtes Terrain. Selbst Theater- oder Konzertsäle (ja sogar Schlafzimmer) bleiben nicht verschont. Deshalb wurde ein bekanntes Wiener Musikhaus mit einem Störsender ausgestattet, nachdem das Handy-Geläut kein Ende nehmen wollte.
Wis(c)h you where here
Gleichzeitig scheint sich das berühmte Dictum „cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich.“) von René Descartes, dem Begründer des modernen Rationalismus, in ein triviales und zuweilen irrationales Credo verkehrt zu haben: „Ich wische, also bin ich.“ Angelehnt an eine andere rastlose Maxime: „Ich eile, also bin ich (wichtig).“ Jedenfalls haben E-Prothesen hohen identitätsstiftenden Charakter. Fast etwas Sakrales. Etwas, dem gerne viel, sehr viel Zeit geopfert wird.
Ein WirtschaftsBlatt-Bericht vom 26.2.2016 mag das untermauern. Er nimmt Bezug auf einen Podcast von Alexander Markowetz, Professor für Informatik an der Uni Bonn und Autor des Buches „Digitaler Burnout“: 88 Mal am Tag schalten wir den Bildschirm unseres Smartphones ein. 35 Mal schauen wir nur auf die Uhr oder sehen nach, ob neue Nachrichten eingegangen sind. 53 Mal entsperren wir das Handy, um zu surfen, Mails zu schreiben oder eine App zu benutzen. Kurz: Alle 18 Minuten unterbrechen wir die Tätigkeit, mit der wir gerade beschäftigt sind.
Und einer kanadischen Studie nach ist die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne bereits auf sagenhafte acht Sekunden geschrumpft.
#IWABI – Ich wische, also bin ich. Ein Such(t)reflex?
Sind Sie auch ein MAIDS-(Wo)man?
Jeder Zeit ihre Sucht. So hat auch postmodernes Suchtverhalten einen Namen: MAIDS (Mobile and Internet Dependency Syndrome). Allein in Österreich seien etwa 80.000 junge Menschen onlinesüchtig – so Michael Musalek, ärztlicher Leiter des Anton-Proksch-Instituts Wien, in einem Interview Anfang 2016. Und Erwachsene eifern eifrig mit. Der anerkannte Suchtexperte nennt sechs zentrale Kriterien, die auf ein explizites Suchtverhalten hinweisen – ob Alkoholismus oder Online-Sucht.
- Verlangen: Ein kontinuierlicher und unbezwingbarer Drang, online zu sein.
- Immer mehr: Süchtige müssen die Dosis ständig steigern.
- Kontrollverlust: Aus 2 oder 4 Stunden online werden zig Stunden.
- Entzugserscheinungen: Süchtige wirken offline gereizt oder bekommen Angstzustände.
- Vernachlässigung: Obwohl Sucht zum Problem wird, erfolgt keine Verhaltensänderung.
- Zentrierung: Alles dreht sich nur mehr ums Internet. Sport, Gespräche etc.? Fehlanzeige.
Dabei gilt: Viel im Web heißt nicht gleich Onlinesucht. Etwa, wenn eine 15-Jährige über ihr Leben in Social Media & Co berichtet: Das Smartphone bestimme zwar ihren Tagesablauf – der erste Gedanke morgens und der letzte abends würden sich darum drehen, onlinemäßig auf dem neuesten Stand zu sein. Dennoch: „Das Smartphone ist ein Teil meines Lebens – aber es ist nicht mein Leben.“ Weil Dinge wie „echte“ Kontakte mit Freunden doch noch wichtiger seien. (Kurier, 16.02.2016)
Andererseits verwundert das Ergebnis einer norwegischen Studie, wonach jedes zweite Kind eifersüchtig auf das Smartphone der Eltern ist, weil es gemeinsame Zeit stiehlt. #WUW – Wisch und weg!
Und wie viel Zeit verwischen Sie? Oder lassen Sie sich stehlen?
I Wis(c)h – I Can
Ich wische, also kann ich. Smartphone-Oberflächen haben tatsächlich etwas Magisches: Einfach wischen – schon erscheint eine ferne, virtuelle Welt ganz nah und real vor der eigenen Nase. Beinahe so magisch wie die „Bezaubernde Jeannie“ in der gleichnamigen US-Fernsehserie bis etwa 1970, also quasi TV-Steinzeit für die Generation Y. Sie harrte 2000 Jahre als orientalischer Geist in einer Flasche aus. Ehe sie entfliehen und nunmehr in Gestalt einer bezaubernden Frau alles herbeizaubern oder verschwinden lassen konnte. All das durch bloßes Augenblinzeln und gleichzeitiges Verschränken der Arme! #IBAKIZ – Ich blinzle, also kann ich (zaubern).
Wir Flaschengeister von heute blinzeln längst nicht mehr, sondern wir wischen. Aber halt! Eine neue Bezahlfunktion bei Mastercard soll bereits 2016 verfügbar sein, so ein aktueller WirtschaftsBlatt-Bericht. Statt der Eingabe des bisherigen TAN-Codes soll sie künftig eine Bestätigung via „Selfie-Pay“ ermöglichen. Und damit nicht ein Foto zur Umgehung der Sicherheitsschranke genommen werden kann, muss einmal – erraten – geblinzelt werden!
Ein ähnliches, noch ausgereifteres Verfahren entwickelt derzeit Amazon. D.h. man muss beim Amazon-Selfie sich selbst (!) zuzwinkern. Im Ernst. Aber wehe dem, der sich „verblinzelt“. Der 2000 Jahre alte Flaschengeist lässt grüßen. Und Jeannie wird angesichts reihenweise zwinkernder Selfie-Payer verwundert grinsen. Oder einfach ihre Arme verschränken und zurück in die Flasche verschwinden.
Aber wer weiß, vielleicht ist Selfie-Zwinkern ohnedies bald schon wieder out – und wir hauchen stattdessen. Nicht nur in den Alkomat, sondern auf das Smartphone, die Master- oder Amazon-Card. Oder einfach so, weil´s alle tun. Wir künftigen Selfie-Haucher. #IHABI – Ich hauche, also bin ich.
Wischlos glücklich versus „Bompeln“
Nach geheimen Informationen des satirischen Kolumnisten Guido Tartarotti hat die iPhone-Branche aber noch ganz andere Pläne: etwa ein Smartphone, das nur fotografieren kann (möglicher Name: Fotoapparat). Oder eines, das ununterbrochen Selfies macht (möglicher Name: Spiegel). Und jene, die künftig damit am besten umzugehen wissen, werden mit einem neuen Titel belohnt, so mein nicht ganz ernst gemeinter Vorschlag: CSO (Chief Selfie Operator).
Von humoriger Ironie zurück in die smarte, harte iPhone-Wirklichkeit: Einige asiatische Städte sollen schon separate Wegspuren für die „Always-on-Generation“ eingerichtet haben, um Zusammenstöße mit Nichtwischern zu vermeiden. Skurril, aber scheinbar keine Boulevard-Ente. Augsburg in Bayern ist schon einen Schritt weiter: Im Frühjahr 2016 wurden an einigen Haltestellen testhalber Bodenampeln (!) installiert, die Handy-Starrer bzw. die „Generation Kopf unten“ vor Unfällen bewahren sollen. Diese „Bompeln„, wie sie gelegentlich genannt werden, lösten weltweites Medieninteresse aus. Und heftige Kontroversen.
Glaubt man aber anderen neuesten Trends, dann zeichnet sich bereits eine zaghafte Abkehr vom epidemischen iPhone-Stress ab: das Zauberwort heißt „Offtime“. Neueste Apps blockieren eingehende Anrufe oder Nachrichten und sollen so mehr freie Zeit für sich selbst oder die Familie herbeizaubern. Für all jene, die es nicht schaffen, den „Aus“-Knopf zu betätigen.
Und die New York Times berichtete schon 2015, dass in den USA vermehrt jene Camps Zulauf haben, in denen Smartphones, Tablets & Co verboten sind. Irgendwie ebenso skurril. Jedenfalls wohl noch lange nicht mehrheitsfähig. Halt ein Trend unter vielen.
#IWNIUBA – Ich wische nimmer immer und bin auch?
Nachdenken
Angesichts immer irrwitzigerer, jedenfalls widersprüchlicher „Wisch-Wirklichkeiten“ scheint René Descartes´ Credo „Ich denke, also bin ich.“ zwar hochgradig out. Einer neuen „Generation Kopf einschalten“ würde es aber wohl guttun. Oder wie es Stephan Strzyzowski, Chefredakteur des größten österreichischen KMU-Magazins „die Wirtschaft“, in einem bemerkenswerten wie brillanten Gedanken auf den Punkt bringt: „Niemand liebt sein Smartphone mehr als ich. Aber ab und an muss man doch auch über den Sinn des Machbaren nachdenken. Der Unsinn lauert nämlich nur einen ganz kleinen Schritt hinter der Faszination.“
#DINMH – Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Außer vielleicht die Frage: Sind Sie auch wischlos glücklich? Jedenfalls zeitweise? Gegebenenfalls könnte ein „Off“-Motto zwischendurch kleine Zeitschenkwunder bewirken: Bin dann mal wisch & weg!
Über den Autor:
Mag. Dr. Franz J. Schweifer ist Geschäftsführer des Beratungsinstituts „Die ManagementOASE – Schweifer & Partner, Coaching. Training. Consulting.“ in Mödling b. Wien. Als Temposoph, Zeitforscher, FH-Lektor, Managementtrainer & Coach mit über 20 Jahren Beratungserfahrung hat er sich v.a. auf ZEIT-spezifische Themen und Widersprüche spezialisiert. Und das auf gesellschaftlicher, unternehmerischer wie persönlicher Ebene.
Aktuelle Publikation: (1) Tempo all´arrabbiata (2) Ach du liebe Zeit (3) Zeit – Macht – Ohnmacht
Weitere Informationen über Franz J. Schweifer