Bei der Strategieentwicklung mit der Szenariotechnik werden sechs Arbeitsschritte unterschieden. Sie werden im Folgenden kurz und kompakt beschrieben.
Schritt 1: Aufgaben-/Problemanalyse; Zieldefinition
Als Erstes werden der Untersuchungsgegenstand beschrieben und ein vorläufiges Ziel der Strategiearbeit definiert. Also zum Beispiel: „Wir wollen eine Strategie formulieren, wie unser Unternehmen gestärkt aus der Krise hervorgeht und langfristig erfolgreich in seinem Markt agiert.“ Danach wird konkretisiert, was die Vokabeln „gestärkt“, „langfristig“ und „erfolgreich“ heißen. Anschließend werden die Faktoren ermittelt, die z.B. den Markt des Unternehmens und dessen Erfolg beeinflussen. Das Ergebnis dieser Phase sind eine konkrete Aufgaben- und Zielbeschreibung sowie Auflistung der Einflussfaktoren.
Schritt 2: Analyse der Einflussfaktoren und deren Wechselwirkungen
Nun wird untersucht, wie die Einflussfaktoren sich beeinflussen. Dies kann in Form einer Vernetzungstabelle geschehen. In ihr werden die Einflussfaktoren einander gegenübergestellt. Danach wird analysiert, welchen Einfluss die einzelnen Faktoren aufeinander haben – zum Beispiel: Wie wirkt sich eine erschwerte Beschaffung aufgrund höherer Handelsbarrieren auf unsere Produktivität und unsere Preise und diese wiederum auf unseren Umsatz und Gewinn aus? Danach werden die Einflussfaktoren gemäß ihrer Relevanz für das Erreichen des übergeordneten Ziels gerankt.
Das Ergebnis dieser Phase ist eine Übersicht über die Einflussfaktoren und deren Wechselwirkungen sowie ihrer Relevanz für das Erreichen der Unternehmensziele.
Schritt 3: Ermittlung möglicher Szenarien
Diese Aufgabe wird momentan dadurch erschwert, dass aktuell vieles im Bereich des Möglichen liegt, was vor der Krise unmöglich schien. So zum Beispiel, dass Staaten aufgrund der Systemrelevanz gewisser Güter einen Import-Stopp von diesen beschließen und diese künftig selbst produzieren. Oder dass ganze Märkte wie die Touristikbranche über Jahre zusammenbrechen. Oder dass der Nachschub solcher Rohstoffe wie der „seltenen Erden“ kollabiert.
Deshalb können viele Trends aus der Vor-Krisen-Zeit nicht fortgeschrieben werden. Und das Datenmaterial ist über Nacht veraltet. Dessen ungeachtet bleibt es ein zentrales Element der Szenarioentwicklung, die Entwicklungsmöglichkeiten der wichtigen Einflussfaktoren ein- und abzuschätzen. So stellen sich zum Beispiel aktuell einem Lebensmittelhersteller mittelfristig die Fragen:
- Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die Ernte im Herbst aus?
- Entsteht eine weltweite Lebensmittelknappheit, die unsere Beschaffungskosten in die Höhe treibt?
- Wie wirken sich die erhöhten Preise auf die Nachfrage in unseren Zielmärkten aus?
Und langfristig?
- Erlangen die Handelsketten eine noch größere Einkaufsmacht?
- Werden Staaten die industrielle Landwirtschaft verstärkt fördern und ihre Ausfuhrbestimmungen verschärfen?
- Wird der Bio-Trend in den Industrienationen einen weiteren Pusch erfahren?
Solche Einflussfaktoren nebst ihren Wechselwirkungen gilt es bei der Szenarioentwicklung zu bedenken. Entsprechend viele Szenarien sind aktuell theoretisch möglich. Für das Ausarbeiten der Strategie empfiehlt es sich deren Zahl auf maximal ein halbes Dutzend zu begrenzen:
- die beiden Extremszenarien (Best und Worst Case),
- das Trendszenario (Trend Case)
- ein, zwei ausgewählte alternative Szenarien.
Mit Hilfe einer Wechselwirkungsanalyse kann deren Plausibilität geprüft werden.
Das Ergebnis dieser Phase ist eine Übersicht über die mögliche Ausprägung der verschiedenen Einflussfaktoren und eine handhabbare Zahl von Szenarien, mit denen weiter gearbeitet wird.
Schritt 4: Bewerten und Interpretieren der Szenarien
Die ausgewählten Szenarien werden nun mit ihren geschätzten Eintrittswahrscheinlichkeiten sowie den mit ihnen verbundenen Chancen und Risiken einander gegenübergestellt. Hierauf aufbauend können Unternehmen ermitteln,
- welche strategischen Optionen und Handlungsoptionen sie haben und
- an welchen Punkten ihre aktuelle Strategie geändert werden muss.
Danach sollte ein Gegencheck erfolgen, welche Optionen für das Unternehmen überhaupt realisierbar sind – zum Beispiel aufgrund seiner Marktposition, seiner (finanziellen) Ressourcen, seiner Kompetenz. Hierauf aufbauend können Maßnahmen definiert werden, um sich für die realistischen Szenarien zu wappnen.
Das Ergebnis dieser Phase ist eine Gegenüberstellung der Szenarien nebst den Annahmen, die ihnen zugrunde liegen, sowie der hieraus abgeleiteten (Handlungs-)Optionen und -Maßnahmen.
Schritt 5: Sich auf eine (vorläufige) Strategie verständigen
Ist dies geschehen, erfolgt nochmals ein Check: Sind die in Schritt 1 definierten Ziele überhaupt realistisch? Wenn nein, müssen diese modifiziert werden. Danach verständigen sich die Entscheider auf eine (vorläufige) Strategie. Der damit verbundene Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess verläuft oft nicht konfliktfrei, denn: Aufgrund ihrer beruflichen Biografie und Funktion in der Organisation schätzen die Teilnehmer die Ist-Situation, die aus der Krise resultierenden Risiken und Chancen und somit auch die Handlungsmöglichkeiten verschieden ein. Zudem sind mit der strategischen Neuorientierung oft harte Entscheidungen verknüpft wie: Wir stellen bestimmte Geschäftsfelder, Projekte ein. Oder: Wir entlassen Mitarbeiter. Deshalb gibt es in diesem Prozess nicht selten Top-Entscheider (und Bereiche), die sich zumindest als Verlierer empfinden, weshalb die Unternehmen anschließend verkünden: „Vorstandsmitglied x hat wegen strategischer Differenzen das Unternehmen verlassen.“ Deshalb empfiehlt es sich, den Prozess der Strategieentwicklung durch einen neutralen, externen Moderator moderieren zu lassen.
Das Ergebnis dieser Phase ist eine Verständigung auf eine (vorläufige) Strategie im Wissen darum, auf welchen Annahmen sie basiert.
Schritt 6: Sich auf einen Plan B und Controllingmaßnahmen verständigen
Erleichtert wird das strategische Neustellen der Weichen aktuell dadurch, dass die momentane Schieflage vieler Unternehmen nicht auf Managementfehler zurückzuführen ist. Dies mindert die Gefahr, dass die Entscheider sich in Schuldzuweisungen verstricken. Hinzu kommt: Die beschlossene Strategie ist nur eine aufgrund des aktuellen Wissensstands entwickelte vorläufige. Dieses Bewusstsein gilt es den Beteiligten mit Nachdruck zu vermitteln.
Hieraus resultiert jedoch auch die Aufgabe, sich zumindest grob auf einen Plan B zu verständigen für den Fall, dass vieles anders als gedacht kommt. Zudem ist mit dem „Sich-commiten“ auf eine neue Strategie die Aufgabe verknüpft, sich auf ein Controlling zu verständigen, inwieweit sich die ihr zugrunde liegenden Annahmen im Zeitverlauf als zutreffend erweisen. Zudem gilt es zu definieren, wann und wie die Entscheider überprüfen, ob das Unternehmen mit der vereinbarten Strategie seine Ziele erreicht oder ob eine Modifikation der Strategie und des Maßnahmenplans nötig ist.
Über den Autor:
Dr. Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal. Er ist unter Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-provence, der St. Gallener Business-School und der technischen Universität Clausthal.