Führen auf Distanz braucht neue Routinen

Für viele erfahrene Führungskräfte ist das Führen von Mitarbeitern auf Distanz noch recht neu. Deshalb bestehen bei ihnen oft Verhaltensunsicherheiten, die auch ihre Mitarbeiter spüren.

Mitarbeiter und Teams virtuell bzw. auf Distanz führen und mit ihnen weitgehend online kommunizieren – vor dieser Herausforderung standen viele Führungskräfte Im zurückliegenden Jahr corona-bedingt erstmals. Inzwischen ist dies, da die Pandemie andauert, ein integraler Bestandteil ihrer Alltagsarbeit geworden. Die Führungskräfte haben also bereits eine gewisse Routine hierin entwickelt und sich sozusagen in dem neuen Normal eingerichtet. Dessen ungeachtet beobachtet man bei ihnen aber noch viele Unsicherheiten beim Virtuellen Führen und Online-Kommunizieren. 

Diese resultieren zumeist daraus, dass die Führungskräfte in ihrem Arbeitsalltag selbst spüren:

  • Aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen muss ich mein Führungsverhalten teils neu justieren, wenn ich weiterhin die gewünschte Wirkung entfalten möchte. Und:
  • Ich brauche zum Teil neue Kompetenzen – nicht nur im Digitalbereich bzw. Umgang mit der modernen, digitalen Informations- und Kommunikationstechnik, sondern auch im Bereich Mitarbeiterkommunikation sowie Selbst- und Mitarbeiterführung.

Dies schlägt sich auch in einer erhöhten Coaching-Nachfrage von Führungskräften nieder, die bereits fünf, zehn oder gar 20 Jahre Führungserfahrung gesammelt haben, als eigentlich „alte Hasen“ im Bereich Führung sind.

Kernfrage: Nehme ich meine Funktion noch angemessen wahr?

In diesen Coachings geht es oft um operative Fragen wie:

  • Wie locke ich bei Online-Meetings eher introvertierte Mitarbeiter aus der Reserve?
  • Wie spreche ich beim Online-Kommunizieren heikle Themen an?
  • Wie sorge ich beim virtuellen Führen dafür, dass die emotionale Beziehung zu meinen Mitarbeitern nicht abreißt?
  • Worauf sollte ich achten, wenn ich online Feedbackgespräche führe?
  • Wie führe ich meine Mitarbeiter virtuell so, dass dies außer ihren persönlichen Bedürfnissen auch ihrem Reifegrad bzw. Entwicklungsstand entspricht? Schließlich gibt es in meinem Team neben Routiniers auch Anfänger beim Wahrnehmen der verschiedenen Aufgaben.

Eine weitere Frage, die vielen erfahrenen Führungskräften auf den Nägeln brennt, ist: Wie stelle ich beim virtuellen Führen bzw. Führen auf Distanz sicher, dass mein Bereich seinen Beitrag zum Erfolg des Unternehmens leistet? Dahinter steckt oft eine diffuse Angst vor einem Kontrollverlust, auch wenn viele Führungskräfte dies nicht gern eingestehen – auch sich selbst. Dabei ist diese Angst nicht unbegründet. Denn die Leistung einer Führungskraft wird primär daran gemessen, welche Leistung ihr Team erbringt, auch wenn dieses weitgehend im Homeoffice arbeitet.

Den Führungskräften fehlt die gewohnte Verhaltenssicherheit

Die Coachings drehen sich also weitgehend um Fragen, die erfahrene Führungskräfte einem Coach eher selten stellen würden, wenn sich die Rahmenbedingungen von Führung nicht geändert hätten. Aufgrund der veränderten Ist-Situation fragen sich aktuell aber auch viele erfahrene Führungskräfte: Nehme ich meine Funktion in der Organisation noch angemessen wahr? Führe ich zum Beispiel mein Team noch real oder organisiere ich faktisch nur noch seine Arbeit?

Den Führungskräften fehlt also zurzeit oft die Verhaltenssicherheit, die ihre Arbeit in der Vor-Corona-Zeit auszeichnete. Das spüren auch ihre Mitarbeiter. Zumindest befürchten dies viele Führungskräfte, und eng damit verknüpft ist nicht selten die Furcht: Kann ich meinen Mitarbeitern noch den gewünschten Halt und die benötigte Orientierung geben, wenn ich nicht mehr die gewohnte Sicherheit ausstrahle? Sinkt dann nicht automatisch ihr Vertrauen in meine Person?

Diese Bedenken sind in der Praxis meist unbegründet, denn: Die Tatsache, dass die Führungskräfte selbst spüren „Ich sollte aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen mein Führungsverhalten überdenken“, zeigt, dass sie diesbezüglich bereits eine hohe Sensibilität entwickelt haben. Ihnen ist bewusst, dass es den „idealen Führungsstil“ nicht gibt, wie es der „Erfinder“ des situativen Führungsstils Ken Blanchard einmal formulierte. Vielmehr muss eine Führungskraft stets ihr Verhalten der Situation und dem jeweiligen Gegenüber anpassen. Diesbezüglich hat sich nichts geändert.

Zudem dürfen Führungskräfte in der aktuellen Übergangsphase in ein neues Normal im Dialog mit ihren Mitarbeitern durchaus auch gewisse Verhaltensunsicherheiten im Bereich virtuelle Führung und Online-Kommunikation verspüren und zeigen. Denn auch sie sind nur Menschen. Und dies können, nein sollten ihre Mitarbeiter im Kontakt mit ihnen auch spüren. Wenn das Provisorium „Führen auf Distanz“ und „Online-Kommunizieren“ jedoch zum neuen Normal in ihrem Betrieb wird, dann müssen die Führungskräfte zumindest mittelfristig neue Routinen entwickeln, wie sie unter den veränderten Rahmenbedingungen ihren Bereich professionell führen sowie ihre Mitarbeitern inspirieren.

Das Verlernen des Gelernten ist oft nicht leicht

In der Praxis bedeutet dies: Die Führungskräfte müssen ihre alten Routinen zum Teil aufgeben bzw. verlernen und neue erlernen und verinnerlichen, damit bei ihnen wieder die gewohnte Verhaltenssicherheit entsteht. Dieses Um- bzw. Neulernen ist oft nicht leicht, weil die über Jahre oder gar Jahrzehnte entwickelten Routinen auch auf Erfahrungen basieren. Sie sind sozusagen ein Teil der beruflichen Identität der Führungskräfte geworden. Entsprechend groß ist die Gefahr, dass sie gerade in Stress-Situationen in sie zurückverfallen.

Anders verhält es sich bei jungen Führungskräften. Wenn es um ihre Entwicklung geht, kann man folgende vier Dimensionen unterscheiden:

  • „Leading yourself“,
  • „Leading your business“,
  • „Leading your people“ und
  • „Leading your team“.

Junge Führungskräfte bzw. Führungsnachwuchskräfte haben in der Regel bezogen auf alle vier Dimensionen einen Entwicklungs- und Förderbedarf. Zudem ist bei ihnen, da sie als Führungskräfte zum Beispiel im Bereich Selbst-, Personal- und Teamführung noch kaum auf Erfahrung basierte Routinen entwickelt und internalisiert haben, eine gewisse Verhaltensunsicherheit normal.

Wer noch keine Routinen hat, muss auch keine aufgeben

Deshalb hat sich corona-bedingt bezüglich ihres Förderbedarfs, sieht man von einigen inhaltlichen Akzentverschiebungen ab, nicht viel verändert – zumal die Angehörigen der Generationen X, Y und Z in der Regel, ohnehin eine hohe Affinität zur Online-Kommunikation und netzgestützten Zusammenarbeit haben. Oder anders formuliert: Weil sie im Bereich Führung noch keine Routinen entwickelt haben, müssen sie auch keine aufgeben.

Anders ist dies bei ihren führungserfahrenen Kollegen. Bei ihnen fokussierte sich in der Vor-Corona-Zeit der Trainings- und Coachingbedarf weitgehend auf die beiden Dimensionen „Leading your business“ und „Leading your team“ aufgrund der jeweils aktuellen Herausforderungen, vor denen ihr Unternehmen oder Bereich gerade stand. In den Bereichen Selbst- und Personalführung waren sie aber erfahrene Profis. Dies hat sich corona-bedingt partiell geändert. Aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen entstand bei ihnen auch in den Bereichen „Leading yourself“ und „Leading your people“ ein neuer Change- und Unterstützungsbedarf, den sie zum Beispiel in Coachings auch artikulieren. 

Wer ein Coaching wünscht, ist in der Regel lernbereit

Befriedigen lässt sich dieser Bedarf meist leicht, denn eine Führungskraft, die sich mit einem entsprechenden Anliegen an einen Coach wendet, signalisiert hiermit bereits: „Ich bin zum Lernen bzw. zu einer Verhaltensänderung bereit.“ Hinzu kommt: Erfahrene Führungskraft sind es gewohnt, neue Herausforderungen zu durchdenken, um hierauf angemessen zu reagieren. Deshalb kann ein erfahrener Coach sie durch ein entsprechendes Nach- und Weiterfragen meist recht schnell zur gewünschten Lösung führen. Gibt er ihnen dann noch einige Praxis-Tipps, was es zum Beispiel beim virtuellen Führen aufgrund der Online-Kommunikation besonders zu beachten gilt, gelingt es den Führungskräften meist schnell, ihr Verhalten neu zu justieren.

Letztlich handelt es bei den in den Coachings betroffenen Vereinbarungen oft um – für Außenstehende – scheinbare Kleinigkeiten wie:

  • „Wenn ich unsicher bin, welche Unterstützung ein Mitarbeiter im Homeoffice braucht, frage ich ihn einfach.“ Oder:
  • „Ich schreibe es in meine To-do-Liste und meinen Kalender, dass ich all meine Mitarbeiter einmal pro Woche anrufe, selbst wenn ich nichts mit ihnen besprechen muss.“ Oder:
  • „Ich engagiere einen Trainer, der mich mit der Arbeit mit Teams, mit dem Agieren vor einer Kamera, einem ‚Green Screen‘ usw. vertraut macht.“ Oder:
  • „Ich schreibe, wenn mir ein Mitarbeiter eine Info oder einen erledigten Job mailt, stets zumindest ein ‚Danke‘ zurück oder schicke ihm ein ‚Smilie‘.“

Die eigentliche Herausforderung ist es, das Beschlossene im Arbeitsalltag entgegen der bisherigen Gewohnheit konsequent umsetzen, und zwar auch dann, wenn man unter Anspannung steht. Das weiß ich als Geschäftsführer eines Unternehmens aus eigener Erfahrung. 

Über den Autor:

Machwurth, Hans-PeterHans-Peter Machwürth ist Geschäftsführer der international agierenden Unternehmensberatung Machwürth Team International (MTI Consultancy), Visselhövede (D), die unter anderem eine Plattform betreibt, auf der Mitarbeiter von Unternehmen, den für sie passenden Coach selbst auswählen und online buchen können.

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