Zeit und Jahr rinnen und rennen. Und wir rennen und rinnen mit. Bloß wohin? Dort, wo ein Zuviel des unaufhörlichen Rennens überhandnimmt, droht das Ausbrennen, das Überhitzen. Achtung Brandgefahr! Endstation Burnout? Damit es nicht soweit kommt und wir (uns) nicht verbrennen und verrennen, braucht es Zeit. Zeit zum Enthetzen und zum Enthitzen. Ein Muße-Plädoyer.
Angesichts der turbogeölten Beschleunigungsmaschinerie, die keinen Stillstand verträgt, scheint es kein taugliches Mittel gegen die eilende Zeitkrankheit zu geben. Der „Beschleunigungssoziologe“ Hartmut Rosa meint, es sei ein strukturelles Problem, denn: „Wenn sich die ganze Gesellschaft beschleunigt, kann ich individuell nicht langsamer werden“.
Und Wirtschaftsberater wie Walter Simon sekundieren, die „Entschleunigungspille“ habe sich als Placebo erwiesen, zumal Zeitknappheit die (unausweichliche) Folge von Zeitgewinnen dank enormer Fortschritte in Wissenschaft und Technik sei. Niemand könne sich aus dem globalen Wirkungs- und Abhängigkeitsgefüge heraushalten.
Und dennoch…
Die vielfachen Argumente, warum es aussichtlos sei, Auswege anzudenken (geschweige denn zu realisieren), sind durchaus plausibel. Es wäre auch naiv, sie nicht ernst zu nehmen. Harte Fakten sprechen für sie. Und dennoch: Erstens gibt es immer mehr als nur eine Wahrheit. Und jede ernsthafte These produziert eine ebensolche Antithese. Überraschende wie kluge Synthesen nicht ausgeschlossen.
Zweitens wäre es fatal, nur in alternativlosen Szenarien zu denken und zu agieren. Pragmatismus kann zwar vor Verirrungen und (ent-)täuschenden Träumereien schützen. Pragmatiker stehen mit beiden Füßen fest am Boden der Realität. Aber sie haben auch gelernt, „mit den Achseln zu zucken, angesichts von Dingen, die zwar unschön sind, sich aber nicht ändern lassen.“ So der Journalist und Kabarettist Guido Tartarotti in einer famosen Kolumne vom 17.06.2015. Deshalb sei es schade, dass es nicht noch viel mehr „Naive“ gibt, die unbeirrt an Alternativen glauben und arbeiten.
Drittens geht es nicht darum, Entschleunigung als seligmachendes Heilungsdogma oder Mantra für Zeitnotgeplagte zu propagieren. Auch nicht um die Reduktion auf künstliche Downshifting- oder Downspeeding-Oasen wie Klostereinkehr, Yoga-Work-out oder After-Work-Attraktionen. Schon gar nicht, wenn sie sich mit halbschlauen, aber letztlich flauen Slogans wie „Go slow beim Coffee to go“ begnügt. Sie sind nette Spielereien im eiligen Zirkus. Aber das Tempokarussell dreht sich unbeirrt weiter.
… ist Enthetzen notwendig
Ja, es gibt keine Zeitwunderpille, auch keine Entschleunigungspille. Und ebenso nachvollziehbar ist W. Simons Conclusio in business-wissen.de: „Mich erinnert der Kampf um Zeitsouveränität an das Volksleiden Übergewicht, das trotz ständig neuer Titelgeschichten und Wunderdiäten niemals geheilt werden konnte. Analog gilt das Gleiche für das Wirtschaftsleiden Beschleunigung beziehungsweise Zeitknappheit.“ Tatsächlich scheint sich der gefürchtete Jo-Jo-Effekt auch nach diversen „Zeitwunderkuren“ einzustellen. Hier die unerwünschte und umso schnellere Gewichtszunahme nach einer strengen Reduktionsdiät, dort der umso üppiger wuchernde Zeitnotstand. Dennoch wäre es desaströs, von vornherein zu kapitulieren, „weil es eh nichts bringt.“ Auch röche es nach fauler Ausrede.
Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, das wohl vielen vertraut ist: Sie machen Urlaub – und stellen verblüfft bis enttäuscht fest, wie schnell der Erholungseffekt im gewohnten Alltagstakt verraucht ist. Dennoch würde kaum jemand daraus ableiten, künftig auf jegliche Auszeiten zu verzichten – „weil es eh nichts bringt.“ Stellen Sie sich vor, Sie würden nie mehr den Versuch machen, abzuspecken – oder auszuspannen. Und stellen Sie sich vor, Sie würden aufgrund der Enttäuschungen nie mehr eine „Zeitdiät“ versuchen – weil eh vergeblich.
Sie würden resignieren. Und resignieren hieße verlieren. Chancen. Illusionen. Motivationen.
… ist Enthetzen möglich
Dosiertes Downspeeding ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Nicht als Allheilmittel, sondern als Regenerationsmittel. Mitunter sogar als Überlebensmittel. Denn wer nicht regeneriert, verliert. Und wer nur rennt, verbrennt. Oder verpennt – die Alarmzeichen. Selbst der umtriebigste Zampano muss früher oder später der Einsicht Tribut zollen, dass Zeit und Energie endlich sind. Beschleunigung, Tempo, Gasgeben sind ja per se keineswegs übel. Im Gegenteil. Sie gehören zum Leben. So wie Ruhe und Rückzug. Allein die Dosis macht das Gift, wie weiland schon Paracelsus postulierte.
Es geht um die Korrektur der Überdosis. Und dafür genügen oft schon erstaunlich kleine Zeitfenster, in denen Sie klar und unmissverständlich entscheiden: Und JETZT reicht´s! Höchste Zeit zum Runterfahren, Ausklinken, Ruhe geben. Nachdenken. Neudenken. Umdenken.
Dazu eignet sich der Hochsommer zur Jahresmitte ganz besonders. Signalisiert er uns doch auch so etwas wie: es ist Halbzeit, Pause, kurz vor Neuanpfiff. Auszeit von der Raserei ist angesagt. Um gestärkt in die zweite Spielhälfte des Jahres starten zu können. Gönnen Sie sich einen entschleunigten und enthetzten Zeitraum! Zeitweise. Nicht nur im Sommer. Frei nach der Maxime: STOP & SMELL THE ROSES! Denn: „Die Muße ist eine Schwester der Freiheit.“ (Sokrates)
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PS: Die Schnellen mögen zwar die Langsamen fressen. Aber immer öfter kommen sie gar nicht mehr dazu, weil sie zuvor an Hetzinfarkt verendet sind. Vife Zeit-Affineure (über-)leben besser, wenn sie nicht nur Unternehmer, sondern auch Unterlasser sein können. Oder wie „Karriere“-Ressortleiterin Sandra Baierl im Kurier-Artikel „Wir wollen alles und versäumen das Beste“ vom 30.11.2013 blendend formuliert: „Es ist Zeit, den teuflischen Pakt mit der Beschleunigung zu brechen und zum Augenblick zu sagen: Verweile doch, du bist so schön.“
[Gelegenheiten dazu bieten sich genug. Und sei es, im Kleinen Widerstand gegen „Zuvielisation“ und Beschleunigungsmanie zu leisten. Lassen wir getrost den schon im Juni einsetzenden Sommer-SALE-Wahnsinn links liegen; ebenso wie die heißen August-Lebkuchen in den Supermarktregalen. Weihnachten kommt früh genug. Genießen Sie den Sommer. Enthetzt.]
Über den Autor:
Mag. Dr. Franz J. Schweifer ist Geschäftsführer des Beratungsinstituts „Die ManagementOASE – Schweifer & Partner, Coaching. Training. Consulting.“ in Mödling b. Wien. Als Temposoph, Zeitforscher, FH-Lektor, Managementtrainer & Coach mit über 20 Jahren Beratungserfahrung hat er sich v.a. auf ZEIT-spezifische Themen und Widersprüche spezialisiert. Und das auf gesellschaftlicher, unternehmerischer wie persönlicher Ebene.
Aktuelle Publikation: (1) Ach du liebe Zeit (2) Zeit – Macht – Ohnmacht
Weitere Informationen über Franz J. Schweifer
[…] Einerseits sei die Möglichkeit des modernen Menschen liebste Wirklichkeit, so Gross, andererseits laute die moderne Form der Verzweiflung: sich abstrampeln im Meer der Möglichkeiten. Umso mehr werden wir also gefordert sein, eine kluge (Aus-)Wahl zu treffen und dosiert zu enthetzen. Weiterführendes dazu gibt es auch in den Fachbeiträgen: Zauberhaft entrümpeln und Enthetzen? Ja! Ein Plädoyer. […]