Wir leben in einer sich rasch verändernden Welt. Unzählige Systeme und ihre Elemente um uns herum interagieren miteinander, ohne dass eine offensichtliche kontrollierbare Kausalität besteht. All das macht unser Umfeld sehr komplex.
Dieser Zustand ist auch in der Berufswelt anzutreffen. Märkte sind dem ständigen Wandel unterworfen, Organisationen und Branchen disruptiert und menschliche Reaktionen nicht vorhersehbar. Die Rolle des Kunden entwickelt sich kontinuierlich weiter. Gerade in den letzten Jahren sind nicht nur neue Bedürfnisse entstanden, durch Covid wurden Entwicklungen sogar enorm beschleunigt. Wir diskutieren über hybride und dezentrale Arbeitsformen, die Schaffung moderner Arbeitsplätze, die ein starkes kulturelles Rückgrat für das Unternehmen bilden, B-Corps, SDGs und andere Nachhaltigkeitsziele und vieles mehr. All das führt zu einer notwendigen Schlüsselfähigkeit für die Entwicklung von Organisationen: auf organisatorischer und individueller Ebene schnell und effektiv auf Veränderungen um uns herum zu reagieren und gleichzeitig unsere mentale Gesundheit zu bewahren. Aber wie kann uns das gelingen?
Setzen wir beim Cynefin Model an. Dieses beschreibt, dass wir zwischen komplexen und komplizierten Systemen unterscheiden sollten. Organisationen agieren (größtenteils) in komplexen Umfeldern, in denen die richtige Strategie „probe-sense-respond“, also experimentieren, schnell anpassen und lernen ist. Und weil wir alle in einer komplexen Welt leben, ergibt sich auch daraus die Notwendigkeit zu experimentieren. Dezentrale Führung und Entscheidung begünstigen diese Experimente und damit die Innovation. Ebenso wie psychologische Sicherheit, die benötigt wird, um Wholeness (=Ganzheitlichkeit) und Purpose zu erleben und so den Mut und die Leidenschaft für die oben genannte Strategie zu entwickeln.
Die Antwort aus Organisationssicht darauf ist „teal“! Das Modell von Frédéric Laloux (Reinventing Organizations: A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness) beruht auf drei Grundprinzipien: Selbstmanagement, Ganzheitlichkeit und Evolutionärer Sinn.
Mehr Selbstmanagement … wenn plötzlich alle führen?
Agile oder selbstorganisierte Unternehmen benötigen eher mehr als weniger Führungskräfte! Paradox, aber erklärbar: Weil jeder eine Führungspersönlichkeit ist, übernehmen auch alle Führung – im Gegensatz zu einigen wenigen Auserwählten in traditionellen bürokratischen und hierarchischen Organisationen. Es ist ein interessanter Spagat, seiner eigenen Verantwortung gerecht zu werden, ohne dabei zu direktiv oder zu kontrollierend zu wirken. In einer Teal-Organisation gibt es deshalb entsprechend hohe Erwartungen an, beziehungsweise Forderungen nach Führung und Autonomie zugleich. Es herrscht eine Fülle an unterschiedlichen Konzepten und Führungsideen. Egal, welcher eine Führungskraft folgt, es wird immer darauf hinauslaufen, dass diese anerkennt, dass sie nicht alles weiß. Dass sie in der Lage ist, Meinungen loszulassen und diese bewusst von echten Einwänden zu unterscheiden. Nur so kann eine Führungskraft, die wir dann alle sind, ihrer Verantwortung gerecht werden, die sie für „alles um sich herum“ hat. Eine Kombination aus diesen Faktoren sowie allgemeine Kultur der Transparenz in Bezug auf Kommunikation, Finanzberichterstattung – eigentlich alles – ermöglicht es, den Bedürfnissen und Erwartungen der Mitarbeitenden und/oder Führungskräfte – je nach Rolle – gerecht zu werden.
Im Idealfall werden Menschen in selbstorganisierten Unternehmen immer wieder dazu ermutigt, sich die Freiheit zu nehmen, ein Ziel zu verfolgen, das für einen selbst, für die Organisation und die Gesellschaft sinnvoll ist. Das Prinzip des Selbstmanagements ermöglicht es so jedem Einzelnen, eine fast grenzenlose Freiheit zu erleben, das zu tun, was man möchte, auch wenn man dabei ebenso viele Pflichten erfüllt. Beides geht Hand in Hand und sehr leicht. Unter einer Voraussetzung: Da sich heutzutage alles so schnell bewegt und man sich regelmäßig in unsicheren und neuartigen Situationen wiederfindet, ist es wichtig – und dafür müssen alle sorgen, beziehungsweise ein Bewusstsein entwickeln – sich selbst und die eigene Rolle innerhalb der Organisation immer wieder intensiv zu reflektieren. Innerhalb des Systems, aber auch an diesem zu arbeiten, indem die Organisation ebenso wie Praktiken, Prozesse und Rollen weiterentwickelt werden, ist fast eine Sicherheitsmaßnahme. Mit dem Ziel, keine bürokratischen Strukturen aufzubauen, die niemandem dienen – oder gar neue Machtstrukturen zu schaffen, die sich nur schwer wieder ändern lassen, sobald sie sich einmal manifestiert haben.
Ganzheitlichkeit … beim Scheitern, Lernen und Wachsen!
Neben der Einführung von Selbstmanagementpraktiken experimentieren Teal-Organisationen oft mit neuen Ansätzen für das Arbeitsumfeld im Hinblick auf „Ganzheitlichkeit“. Man ist sozusagen auf der Suche nach einem menschlicheren Ansatz für die Zusammenarbeit. Im Mittelpunkt steht dabei oft der Aspekt der psychologischen Sicherheit als Basis dafür, sich als Person voll und ganz zu zeigen und gleichzeitig auch Basis für die viel geforderte Fehlerkultur oder Speak Up Culture. Aber Achtung: Das für mich größte Missverständnis beim Thema safe space ist, dass jede/r alles teilen und über alles reden muss. Dabei geht es vielmehr darum, dass ich alles teilen kann, wenn ich will. Niemand sollte gezwungen werden über private Themen zu sprechen, über die er nicht reden möchte oder Gefühle zu offenbaren, die noch nicht reif dafür sind etc. Unter der Voraussetzung allerdings unterstützen sich die Mitglieder eines Teams gegenseitig unermüdlich auf dem Weg des Scheiterns, des Lernens und des Wachstums. Alle haben ein offenes Ohr, wenn jemand einen Rat oder ein Feedback braucht, wenn jemand Vorhaben oder Tun eines anderen in Frage stellt oder Konflikte lösen muss. Die konstruktive Konfliktlösung ist einer der Kernerfolgsfaktoren für Unternehmen. Ohne und mit der Einstellung `wir sind alle zwar nett zueinander, bewirken jedoch keine kontinuierliche Verbesserung‘ entsteht keine Innovation etc.
Verletzlichkeit und die Fähigkeit, „Ich weiß nicht“ zu sagen, sind Begriffe, die Teal-Organisationen als Stärke betrachten und zu der Mitarbeitende, vor allem, wenn sie neu im Team sind, stets ermutigt werden. Oft wird Kollegen in wöchentlichen Teambesprechungen auf transparente und wertschätzende Weise Dank oder Lob ausgesprochen. Unabhängig vom Status (Voll- oder Teilzeitbeschäftigte und sogar Auszubildende) arbeiten alle am System. Dies geschieht beispielsweise durch monatliche Governance-Sitzungen, bei denen jeder Mitarbeitende an seinen Rollen, den Vorgehensweisen und dem System im Allgemeinen arbeiten kann. Normalerweise steht bei der Gelegenheit jedem frei, Ideen vorzuschlagen und zu präsentieren. Der allgemeine Entscheidungsprozess ist ein Zustimmungsprozess. Die Validierung der vorgestellten Ideen und Vorschläge beginnt mit einer Zeit der Klärung und dem Anhören der Reaktionen des Teams. Gibt es auf die Frage, ob jemand Einwände gegen die Ideen hat, keine, startet auch schon die Umsetzung. Dieser Konsensentscheidungsprozess eröffnet viele Möglichkeiten für eine effiziente und effektive Entscheidungsfindung.
Im Falle eines Scheiterns wird in einem traditionellen System (unbewusst) die für die Initiative verantwortliche Person meist auch verantwortlich gemacht. Im Gegensatz dazu versuchen Teal-Organisationen, daraus zu lernen und zu verstehen, warum es passiert ist, damit sich die gleichen Fehler in Zukunft nicht wiederholen. Scheitern ist Teil der Innovation. Um das Experimentieren und Scheitern zu fördern, hilft der regelmäßige Austausch über den „Learning of the Week“, bei dem die jüngsten Misserfolge besprochen und gefeiert werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass niemand für seine Taten und auch Fehler verantwortlich ist. Ganz im Gegenteil: Der Grundsatz der Verantwortlichkeit ist in Teal-Organisationen besonders wichtig, da sich auch alle für den Erfolg des Unternehmens verantwortlich fühlen sollen. Sich selbst als Unternehmer zu sehen, der für seine eigenen Verpflichtungen, das eigene Arbeitspensum und die Einhaltung gemeinsamer Grundsätze sowie für ihre Fähigkeiten und Grenzen verantwortlich ist, ist natürlich nicht immer eine angenehme Erfahrung und erfordert ein hohes Maß an individueller Reife.
Evolutionärer Sinn … damit Zweck und Ziele erfüllt werden.
Der Slogan „Purpose statt Profit“ ist derzeit überall zu lesen. Natürlich ist der Sinn bzw. Zweck für ein Unternehmen von entscheidender Bedeutung. Insbesondere, wenn es darum geht, teal oder agil zu sein. Gleichzeitig geht es aber darum, den Evolutionären Sinn zu erfüllen, um damit ein lebensfähiges Unternehmen zu schaffen. Es geht nicht um ein Entweder-oder, Sinn oder Profit, sondern vielmehr um eine ganzheitliche Integration von beidem im Alltag – sowohl im Business als auch persönlich. Sofern man das überhaupt noch trennen soll und kann. Das Unternehmen ist ein lebendiger Organismus mit lebendigen Organismen. Deshalb gilt es mehr zu spüren und zu reagieren, anstatt die Zukunft vorherzusagen und alles kontrollieren zu wollen. Für Letzteres ist die Welt zu groß und komplex geworden.
Ein wesentlicher Punkt, den man bei der Diskussion um den Sinn sowie die darauf aufbauende Zielsetzung im Auge behalten sollte, ist: Das Gespräch darüber ist viel wichtiger als die endgültige Aussage! Bei jeder Entscheidung, die getroffen wird, insbesondere bei den größeren und folgenreicheren, sollten sich Teal-Organisationen fragen: Bleiben wir unserem Ziel treu, wenn wir diesen Weg gehen? Das kann beispielsweise bedeuten, Kunden auch einmal abzulehnen, wenn die Anfrage oder ihr Vorgehen nicht mit den eigenen Werten übereinstimmt. Umso wichtiger ist es, sich als Organisation regelmäßig über den eigenen Sinn und Zweck sowie die Ziele auszutauschen: Was ist wirklich unser Evolutionärer Sinn? Was bedeutet dieses Wort für mich persönlich und für uns als Unternehmen? Wie können wir das Ganze mit Leben füllen? Alles wichtige Fragen, auf die es nie eine richtige oder falsche Antwort geben wird, die aber Gespräche erfordern, um eine Übereinstimmung zu finden.
Es ist nicht leicht, „teal“ zu sein!
Obwohl Teal viele Vorteile hat, ist es keineswegs einfach oder immer bequem. Tatsächlich kann es jeden innerhalb des Systems manchmal mehr oder weniger überfordern. Es braucht Zeit und harte Arbeit, um all die Praktiken, Gewohnheiten, Überzeugungen und Wertesysteme, die durch frühere Erfahrungen geprägt wurden, zu verlernen oder abzubauen. Vor allem ist es eine ständige Reise der persönlichen Entwicklung – und die ist weder immer nett, noch wollen wir manchmal in den Spiegel sehen und sicher kostet sie auch sehr viel Energie. Aus diesem Grund muss vor allem der Onboarding-Prozess darauf abzielen, eine solide Begleitung bei diesem neuen Abenteuer sein. Mitarbeitende, die in einer Teal-Organisation zu arbeiten beginnen, müssen lernen, dass es normal ist, sich verloren und verunsichert zu fühlen. Und man auch nicht so tun muss, als hätte man immer die Lösung oder fühle sich wohl – was in traditionellen Unternehmen normalerweise der Fall ist. Vor allem die Solidarität eines bestehenden Teams bzw. des ganzen Unternehmens macht diese Phase für die meisten jedoch gut überwindbar. Die Umsetzung von Teal führt jedoch auch immer wieder zu neuen und einzigartigen Herausforderungen: Bei allen leidenschaftlichen, zielstrebigen Mitarbeitenden, die von Teal zutiefst überzeugt sind, stellt sich oft eine gewisse Ungeduld ein. Neigen gerade neue Mitarbeitende dazu, sich vom ersten Tag an beweisen zu wollen und so schnell wie möglich zu lernen, denkt oft niemand mehr daran, dass es auch eine Teal-Tugend ist, von Zeit zu Zeit innezuhalten.
Wir kennen das alle, und wir wissen, wie es ist, wenn man einfach zu allem „Ja“ sagen möchte. Vor allem Purpose begünstigt diese Leidenschaft und Begeisterung für ein Thema. Dann „Nein“ zu sagen, fällt doppelt schwer. Es kann eine Herausforderung sein, Prioritäten zu setzen, den Übergang zur Selbstorganisation zu bewältigen und zu lernen, sich selbst zu führen, während man sich gleichzeitig als Person weiterentwickelt und wächst. Der Schlüssel dazu ist die Fähigkeit, zu lernen – und zwar in alle Richtungen. Das heißt, zum einen auf die Empfehlungen eines Onboarding-Teams sowie der erfahrenen Kollegen zu hören, zum anderen aber auch auf die neuen Teammitglieder. Da wir alle ständig lernen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Neuling in der Lage ist, Fragen zu stellen, sich zu trauen, sobald er ankommt, sich einzubringen und zu hinterfragen, damit das Implizite explizit wird.
So wie eine Teal-Organisation Vertrauen in seine Teal-Grundsätze und Teal-Ziele hat, hat natürlich auch jeder Mensch in dieser Organisation Vertrauen in sich selbst, in das Teams und das eigene Potenzial. Genau das unterscheidet Teal von traditionellen Systemen: halten, was versprochen wurde, und versuchen, den hohen Ansprüchen, die Teal stellt, gerecht zu werden. Eine enorme Herausforderung, vor allem dann, wenn möglicherweise die finanzielle Leistung des Unternehmens sinkt, in Zeiten von Konflikten oder bei größeren strukturellen Veränderungen. Wie in jedem System erzeugt dies verständlicherweise Ängste und Befürchtungen.
Fazit: Teal oder Agilität ist natürlich keine magische Lösung für alle Probleme oder Herausforderungen. Es ist ein Konzept und ein Ansatz, der es uns ermöglicht, auf die Herausforderungen zu reagieren, die uns gestellt werden. In diesem Sinne würde ich mir wünschen, dass sich mehr Unternehmen und Führungskräfte trauen, etwas Neues und Anderes auszuprobieren. Fast jeder ist sich bewusst, dass wir nicht einfach so weitermachen können wie bisher. Vielleicht ist „Agil“ nicht der richtige Weg, vielleicht ist „Teal“ nicht der richtige Weg, aber das Experimentieren mit anderen, neuen Ansätzen wird uns sicherlich helfen, den Paradigmenwechsel zu vollziehen, den wir so dringend brauchen!
Über den Autor:
Timm Urschinger ist Mitgründer und CEO von LIVEsciences. Nach dem Studium sowie einigen Jahren bei einem bekannten Pharma-Konzern in der Schweiz und im Consulting beschloss er ein eigenes Unternehmen zu gründen. Seine Erfahrung im Management globaler Programme und Transformation hat in ihm die Leidenschaft geweckt, pragmatische und innovative Lösungen zu entwickeln – für das eigene Unternehmen und für Kunden. Neue Organisationsmodelle wie Teal spielen dabei eine ebenso große Rolle wie die Selbstführung und dass Menschen endlich wieder Sinn und Spaß im Berufsleben erfahren.