Wir werden innerlich erwachsen, wenn wir unsere innere kritische Stimme entwickeln
Jeder kennt sie, diese selbstkritischen und schwächenden Gedanken über sich selbst und die abwertenden Gedanken über andere.
Wir halten sie für normal und eher uns selbst oder andere für falsch. Dies kommt aus dem Teil unseres Bewusstseins, den wir den „inneren Richter“ oder „inneren Kritiker“ nennen können. Ohne seinen Einfluss sind wir zufriedener und leben mehr in unserem Potenzial. Aber der Richter hat etwas dagegen. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir, dass es eine Sorge ist. Es ist die Sorge, dass wir dann ungeschützt und hilflos durch unser Leben liefen, sozial isoliert und existenziell gefährdet wären, keinen Antrieb hätten, uns nicht um uns selbst kümmern würden oder uns nicht entwickeln würden. Da der Richter ein Beschützer in unserem Bewusstsein ist, stellen wir auch diese Sorge nicht in Frage. Wir ergeben uns der inneren Schwächung im Glauben, dass das auch noch gut ist für uns.
Brauchen wir wirklich Kritik für ein optimales Leben?
Was da in uns abläuft verdient eine genaue Betrachtung:
- Welche Gefahr ist wirklich gegeben?
- Worauf basieren diese inneren Impulse?
- Wie wirkt diese halb-bewusste Selbststeuerung?
- Was ist angemessener?
Die Nebenwirkungen dieser Selbststeuerung stehen im Weg zu dem, was wir erreichen wollen. So macht uns z.B. der Selbstzweifel so nervös, dass wir einen Vortrag nicht souverän halten können, obwohl wir fachlich genug Kompetenz dafür haben.
Der innere Richter ist der Teil unseres Bewusstseins, den wir im Alter von 2-3 gestartet haben, um uns zu schützen vor dem, was für uns bedrohlich war. Das war in diesem Alter in der Regel der Ärger der Mutter, des Vaters oder anderer Bezugspersonen. Freud hatte diesen Anteil als Über-Ich bezeichnet und man sagt ihm nach, dass Freud glaubte, über das Über-Ich werde die Sozialisation weitergegeben. Inzwischen wissen wir, dass dieser Bewusstseinsanteil sich bis zum Alter von spätestens 8 Jahren definiert und uns seit her oft mehr schlecht als recht versucht zu beschützen.
Trotz seiner positiven Absicht ist sein Umgangsstil mit uns seine Schattenseite. Er tritt mit seinen selbstkritischen und schwächenden Gedanken in uns auf als
- Zweifler
- Antreiber
- Vergleicher
- Moral-Instanz/ Schlechtes Gewissen
- Scham- und Schuldgefühle
- Aufpasser
- Anpasser
- Unterordner
- Verurteiler anderer
- Selbstschwächer, Kritiker und Erniedriger des Selbst
- Bewahrer des Status Quo
- und zum Teil auch als Auto-Aggression.
Da seine Orientierung auf Definitionen aus der Vergangenheit basiert und hierin einerseits alte reale schwierige Erlebnisse aber andererseits auch eine gute Portion kindlicher Fehlinterpretationen gespeichert sind, kann sein Schutz für uns heute als Erwachsene gar nicht optimal sein. Seine Kernüberzeugung ist, dass es uns an Wert fehlt und wir diesen Mangel kompensieren müssen. Als Kind haben wir nicht verstanden, warum Mama nicht da ist oder sie gerade nicht nett ist, und die Erklärung, dass es an uns selbst liegt, war uns innerlich „lieber“ als weiterhin nicht zu verstehen und nichts ändern zu können.
Meist hat der Richter ein Ziel hinter all seinen kritischen Ansagen, die er uns als Gedanken einflößt: Dass wir nicht noch einmal etwas erleben, das uns als Kind gefährdet, überfordert oder unsere Liebens- bzw. Lebenswertigkeit anderen gegenüber in Frage stehen lies.
Wenn er erkennen würde, dass wir diesen Gefahren als Erwachsener gar nicht mehr ausgesetzt sind, dass wir heute erwachsen sind und wesentlich mehr Kapazitäten zur Verfügung haben als damals, würde er nur noch einen freundlichen Hinweis-Stil brauchen, um uns im Leben zu unterstützen.
Wie das aussieht, ist im Folgenden anhand seiner Auftrittsweisen einzeln erläutert:
Zweifler
Wenn er uns den Zweifel gibt, ist das keine objektive Abwägung, sondern die Unterstellung, dass wir etwas nicht können oder nicht genug Wert sind. Diese Unterstellung spricht den Schmerz unseres inneren Kindes an und wir geraten subtil in Angst. Unser Gedankenradius wird eng. Unser Zugang zu unseren Ressourcen auch.
Wirklich hilfreich ist er, wenn er uns eine offene Frage gibt, deren Prüfung er uns zur Aufgabe macht: „Bitte schau, welche Qualitäten von einem Vortragenden seitens des Publikums und Auftraggebers erwartet werden und welche davon Du abdecken kannst. Bitte schätze ein, ob das ausreichend ist und was Du ggf. noch vorbereiten müsstest.“
Antreiber
Als Antreiber will der Richter erreichen, dass wir mehr tun. Mehr als was? Seine Antwort dazu lautet: „Mehr als das, was Du selbst tun würdest.“ Seine Einschätzung geht wieder auf unser Kindesalter zurück. Nicht selten glaubt er, wir lägen – wenn es nach uns ginge – den ganzen Tag Chips-essend auf dem Sofa. Daher treibt er uns an; über unsere Impulse hinaus. Unser natürliches Gespür für Pause und Ausgleich wird ignoriert, zum Teil bis zum Burnout. Und unser natürlicher Antrieb nach Betätigung wird genauso platt gemacht wie unser eigentliches Interesse. In einer wirklich hilfreichen Variante challenged uns der Richter freundlich, z.B. mit „Vermeidest Du was oder brauchst Du wirklich Pause?“
Vergleicher
Für manche Menschen ist der Vergleich von sich selbst mit anderen ein Dauerzustand, für andere taucht er nur gelegentlich oder bei besonderen Zielgruppen auf. Ein Vergleich aus Neugierde („Ich kann das nicht. Wie macht der das?“) und Freude über die erkannte Vielfalt des Lebens ist angemessen. Aber ein selbst-bewertender Vergleich macht schlichtweg keinen Sinn; einerseits, weil der eigene Wert nicht mit Maßstab oder Bedingung erzeugt werden kann sondern per se gegeben ist, und andererseits, weil es niemanden auf dem ganzen Planeten gibt, der einem selbst gleicht. Der Richter möchte aber den vermeintlich fehlenden oder zweifelhaften Selbstwert nachweisen, legt dafür vergleichende Maßstäbe an und möchte uns damit in die Gesellschaft einpassen (siehe Anpasser).
Moral-Instanz/Schlechtes Gewissen
Die vereinfachte Denkweise von „gut und böse“ entspricht einer der ersten gedanklichen Differenzierungen im Kindesalter und wurde auch von der Kirche zum Teil verstärkt genutzt. Mancher Richter hatte hier seine Schule und „labelt“ uns schnell als „böser Junge“ oder „böses Mädchen“. Stattdessen kann er uns eigentlich helfen, unser Verhalten mit unseren eigenen Werten zu vergleichen, z.B. mit der Frage „Ist das, was Du da gerade tust, gegen Deine eigenen Werte oder gibt es da eine Differenzierung?“. Die Erkenntnis aus dieser Überlegung reicht uns heute völlig aus.
Scham- oder Schuldgefühle
Wir alle machen Dinge falsch, vermasseln etwas und zeigen uns in einer Weise, die nicht zu dem passt, wie wir uns auch kennen oder wie wir gerne sein möchten. Der Richter denkt, dass er uns dafür schlecht machen muss, damit das nicht nochmal passiert. Er geht dabei manchmal sogar bis zur Stigmatisierung („Du bist einfach dumm.“) und es fühlt sich manchmal sogar wie eine innere Vernichtung an. Viel angemessener ist die Frage auf Augenhöhe: „Was willst Du daraus machen?“
Aufpasser
„Was machst Du da schon wieder?“, „Musst Du schon wieder…?“ ähnelt oftmals den Aussagen unserer Eltern und spricht uns deutlich als Kind an. Auf Augenhöhe gestellt, beruht die Frage auf einem Interesse an mehr Verständnis oder Bewusstheit: „Was ist das, was Dich das jetzt tun lässt?“ und gibt uns damit mehr Möglichkeit, etwas über uns zu erkennen.
Anpasser
Hier sitzt der Motor für all die Gefälligkeitsnummern, die uns davon abhalten, da zu sein und das zu tun, was uns eigentlich entspricht. Die Maxime des Richters ist hierbei, dass wir uns den anderen/der Gesellschaft und deren meist unausgesprochenen bzw. sogar auf sie nur projizierten Erwartungen anpassen. Eine hilfreiche Unterstützung seitens des Richters in dieser Hinsicht ist eher die Frage, ob eine Anpassung gerade hilfreich ist oder ob eine andere Orientierung wichtiger ist.
Unterordner
Wenn der Richter uns dazu bringt, uns anderen unterzuordnen, dann meist nicht aus rollenbedingten Unterschieden sondern aus einem vermeintlichen Rangunterschied im Wert als Mensch. Wem das klar wird, versteht schnell, dass menschlich keinerlei Rangunterschied angemessen ist. In seiner besten Variante würde der Richter in diesem Kontext eher unsere Würde schützen („Mach Dich nicht klein.“) und äußere Unterschiede nur rollenbedingt zulassen („Als Chef darf er das entscheiden, aber das hat mit Dir als Mensch nichts zu tun.“).
Verurteiler anderer
Je stärker der Richter sich das Recht herausnimmt, uns innerlich zu kritisieren, umso mehr tendieren wir dazu, andere zu verurteilen. Der Richter nutzt sein Mittel der Abwertung gleichermaßen für uns wie für andere. Wenn wir jedoch mit uns selbst wach und freundlich umgehen, nehmen wir andere in ihren Facetten klar wahr, ohne sie verurteilen zu müssen. In diesem Fall braucht der Richter einfach nur die Vielfalt des Lebens bestaunen, wie wir selbst („Interessant, was es für große Unterschiede geben kann.“).
Selbstschwächer, Kritiker und Erniedriger des Selbst
Wenn der Richter uns kritisiert, erniedrigt, schwächt, macht er damit gar nichts besser. Er schießt damit weit über seinen ursprünglichen Auftrag des Selbstschutzes hinaus. Meist will er damit erreichen, dass wir uns weniger trauen, uns nicht bestimmten Gefahren aussetzen oder vorbereitet sind auf eine vermeintlich mögliche vernichtende Kritik von außen. Leider ist die innere Kritik für uns vernichtender als es jede äußere sein könnte. Auch hier ist ein Unterlassen die beste Alternative. Freundliche Hinweise reichen uns als erwachsenem bewussten Ich aus, um etwas zu berücksichtigen, z.B. „Ich glaube, der braucht nach dieser Aussage von Dir etwas, um sich nicht abgelehnt zu fühlen.“
Bewahrer der Status Quo
Der Richter will uns zwar ständig anders haben, als wir sind, aber er will eigentlich nicht, dass wir etwas an dieser inneren Navigation ändern. Im Coaching kommt es da sogar manchmal zu der absurden Situation, dass der Richter einerseits dem Ich vorwirft, ihn (den Richter) nicht „im Griff“ zu haben, und er andererseits stur daran festhält, dass doch so wie bisher alles am besten ist. Wenn ein Veränderungsschritt möglich ist, sagt er oft, dass doch alles eigentlich gut ist, man es doch schließlich weit gebracht hat und was der Veränderungswunsch eigentlich soll. Da er das Leiden des Ichs unter seinen Aktionen nicht mitkriegt, sieht er die Not nicht. Er untergräbt damit unser Wohlbefinden und die Nutzung unseres Potenzials. Bei jeglicher Entwicklungsarbeit geht es also um die Möglichkeit der Entfaltung, und nicht um das Verhindern oder das Müssen einer Veränderung. Das Lernen kann der Richter dem Ich überlassen. Er braucht sich da nicht auskennen. Eine kooperative Haltung seinerseits heißt hier: „Lass mich wissen, worauf es Dir in dieser Lebensphase ankommt, dann kann ich Dich dabei unterstützen.“
Auto-Aggression
Die Attacken des Richters erzeugen Schmerz. Schmerz erzeugt entweder Trauer oder Wut. Wenn wir uns nicht vom Richter differenzieren, passiert es leicht, dass wir die Wut aus dem Schmerz und über den Schmerz auf uns selbst lenken. Sie gehört jedoch dem Richter für die Attacke. Das erwachsene Ich sagt dann z.B. „Wie redest Du eigentlich mit mir?! Hör sofort damit auf!“ Es gibt viele Varianten, die Attacken zu stoppen. Welche wirksam ist, muss individuell herausgefunden werden.
Wie wäre das erwachsene Leben ohne diese negativen inneren Einflüsse?
Unser innerer Richter braucht eine Entwicklung, um uns wirklich hilfreich zu sein.
Wie können wir dies bewirken?
Es passiert häufig, dass der Richter nicht einfach zu einer Veränderung seiner inneren Impulse zu bewegen ist; schließlich ist es ihm wichtig, den status-quo zu sichern und zu erhalten. Es braucht also meist mehr als nur eine einfache Argumentation. Im Einzel-Coaching und in Persönlichkeitstrainings wird der individuell erforderliche Schritt erarbeitet, in dem es immer darum geht, mit dem bewussten erwachsenen Ich in die Führung zu gehen und die Macht zu nehmen, das innere Kind selbst zu schützen und dem Richter zu zeigen, was er darf und was er ncht darf.
Wir nennen diesen Schritt „das zweite Erwachsen-Werden“.
Über die Autorin:
Cornelia Weber-Fürst ist MCC, Master Certified Coach, in München und unterstützt die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kunden in Einzel-Coachings sowie in ihrem TRIPLE A-Leadership-Programm.
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