Der notwendige Mindset in agilen Organisationen

„Unsere Mitarbeiter sollen eigenverantwortlicher arbeiten.“ „Die Führung in unserer Organisation muss sich ändern.“ Das fordern die Unternehmen seit Jahrzehnten und haben schon viele entsprechende Initiativen gestartet. Doch diese zeigen in der VUKA-Welt oft nicht die gewünschte Wirkung.

„Wir wollen kundenorientierter werden.“ „Wir wollen innovativer werden.“ „Wir wollen agiler werden.“ Solche Entwicklungsziele verkünden Unternehmen immer wieder für ihre Organisation – nicht als Selbstzweck. Dahinter stecken unternehmerische Ziele. Zum Beispiel: Wir wollen mehr Umsatz und eine höhere Rendite erzielen. Oder: Wir wollen die Existenz unseres Unternehmens langfristig sichern.

Also gestalten die Unternehmen ihre Organisation entsprechend um. Zudem schulen sie ihre Mitarbeiter top-down in den Arbeitsweisen, die aus ihrer Warte zum Erreichen der Ziele nötig sind: beispielsweise im „Design Thinking“. Doch nach einiger Zeit stellen sie nicht selten frustriert fest: In unserer Organisation hat sich zwar viel bewegt, doch unser Ziel – zum Beispiel, agiler zu werden – haben wir nicht erreicht; und schon gar nicht das übergeordnete Ziel, den Erfolg und somit die Existenz unseres Unternehmens langfristig zu sichern.

Unternehmen hinken der Entwicklung hinterher

Dafür, dass dies oft geschieht, gibt es viele Gründe. So verändern sich zum Beispiel in der VUKA-Welt

  • die Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Handelns sowie
  • die (technischen) Möglichkeiten, Probleme zu lösen, und somit auch
  • die Kundenbedürfnisse so rasch,

dass die (Handlungs-)Strategien der Unternehmen eigentlich permanent auf dem Prüfstand stehen.

Das heißt: Die Unternehmen hinken – zumindest gefühlt – stets der Entwicklung hinterher. Zugleich resultiert jedoch aus der raschen Veränderung ein so großer Change- und Lernbedarf auf allen Ebenen, dass er top-down immer weniger erfasst und befriedigt werden kann.

Die Ziele der Unternehmen sind nicht neu

Hierauf haben die Unternehmen in der Vergangenheit durchaus reagiert. So lautete zum Beispiel bei allen Managementsystemen, die in den letzten Jahrzehnten en vogue waren – unabhängig davon, ob diese KVP, TQM, Kaizen, Six Sigma oder Lean Management hießen – stets ein zentrales Ziel: Die Projekt- und Alltagsarbeit soll sich stärker an den Bedürfnissen der Kunden orientieren. Und um dieses Ziel zu erreichen, wurde auch stets propagiert, mehr Entscheidungsbefugnisse auf die Mitarbeiter- und Teamebene zu verlagern. Und eng damit verknüpft war die Forderung: Die Führung muss sich ändern; die Führungskräfte müssen sich verstärkt als Befähiger und Ermächtiger ihrer Mitarbeiter verstehen.

Entsprechend viele Initiativen, um einen solchen Kulturwandel hierbei zu führen, wurden in den meisten (größeren) Unternehmen schon ergriffen. Deshalb wirkt es auf die Betroffenen absurd, wenn man, wie aktuell manch New-Work-Evangelist, ein Zerrbild von Führung in den Unternehmen an die Wand malt, das rein auf dem Befehl-Gehorsam-Prinzip basiert, und betont: „Der Mindset muss sich radikal verändern.“ Ähnlich verhält es sich bezogen auf die Zusammenarbeit.

Solche Zerrbilder sind plakativ. Sie entsprechen aber zumeist nicht mehr der betrieblichen Realität – zumindest wenn es um die Kernbereiche der Unternehmen geht. Sie sind zudem, wenn es um einen Kulturwandel geht, nicht zielführend, denn sie desavouieren die Leistung sowie die in der Vergangenheit bereits gezeigte Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft der Mitarbeiter. Deshalb produzieren sie (unnötigen) Widerstand.

Die Unternehmen sind verunsichert

Dessen ungeachtet besteht aktuell in vielen Unternehmen top-down eine tiefe Verunsicherung, wenn es um die Frage geht: Wie soll unsere (Zusammen-)Arbeit künftig strukturiert sein? Sie wird insbesondere durch die digitale Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft ausgelöst. Diese Verunsicherung zeigt sich auch darin, wie viele Manager in den letzten Jahren in das Mekka Silicon Valley pilgerten und welchen Widerhall manche Managementkonzepte finden.

So geistert zum Beispiel seit einigen Jahren der Begriff „Holokratie“ (engl. „Holacracy“) durch die Managementdiskussion. Er bezeichnet eine nicht-hierarchische Organisationsform, die allen Mitgliedern der Organisation viele Möglichkeiten der Partizipation und Selbstorganisation bietet, auf der Basis gemeinsamer übergeordneter Entscheidungen und einer hohen Transparenz der Information. Bei ihr besteht die Organisation aus einer Vielzahl von selbstständigen Einheiten, sogenannten „Holons“, die sich auf der Basis einer Verfassung zusammenschließen und ihr Regelwerk ständig optimieren. Die Mitglieder der „Holons“ haben keine Führungskräfte bzw. Vorgesetzte, die ihnen sagen, was es zu tun gilt. Sie treffen vielmehr im Rahmen der vereinbarten übergeordneten Ziele die Entscheidungen weitgehend selbst. Soweit so gut.

In der Praxis wurde diese Organisationsform bisher jedoch nur in Non-Profit-Organisationen und kleinen Start-ups realisiert. Und von den zwölf Organisationen, die Frederic Laloux 2014 in seinem Buch „Reinventing Organizations“ als Beleg für die Realisierbarkeit des Konzepts nannte, kehrten zehn wieder zu einem traditionellen Top-down-Management zurück – auch weil die Unternehmen vor dem Einführen der Holokratie nicht ausreichend prüften, ob ihre Kultur und die Rahmenkriterien eine solche Form der Zusammenarbeit überhaupt zulassen. Entsprechend groß und zahlreich waren die internen Konflikte.

Auch Selbstorganisation erfordert Führung

Die zentrale Ursache hierfür ist: In größeren Organisationen steht die Arbeit der einzelnen Einheiten – egal, ob sie Arbeitsteams oder Holons heißen – stets in Zusammenhang mit übergeordneten Zielen und einer sich hieraus ergebenden Gesamtstrategie. Und die mit ihnen verknüpften Entscheidungen müssen getroffen und vermittelt werden. Deshalb benötigen größere Organisationen stets eine gewisse Form der Hierarchie und Führung. Sonst fehlen den Mitarbeitern der erforderliche Halt und die nötige Orientierung, die auch für ein weitgehend selbstbestimmtes Arbeiten unabdingbar ist. Dass die Holokratie-Idee trotzdem auf eine so nachhaltige Resonanz stößt, zeigt, welch große Verunsicherung zumindest bei vielen Organisationsentwicklern in den Unternehmen besteht.

Entsprechendes gilt für die agilen Arbeitsweisen und -methoden. Sie werden nicht selten als die Lösung aller Probleme der Unternehmen im digitalen Zeitalter präsentiert – unter anderem weil auch sie auf eine weitgehende Übertragung der Entscheidungsbefugnisse auf die Mitarbeiter bzw. Teams setzen, so dass diese eigenverantwortlich handeln können. Dies setzt jedoch einen gewissen Reifegrad der Mitarbeiter und Teams voraus. Er muss von den Führungskräften bzw. vom Unternehmen gezielt gefördert werden.

Die agilen Methoden sind kein Allheilmittel

In der Praxis scheitert die sogenannte agile Skalierung – also die Übertragung der agilen Arbeitsweisen und -methoden, die weitgehend aus der Softwareentwicklung stammen, auf ganze Unternehmen – nicht nur daran, dass in manchen Unternehmensbereichen einige der agilen Prinzipien (siehe Kasten) wie zum Beispiel das inkrementelle Arbeiten nur sehr bedingt realisierbar sind; so zum Beispiel in der industriellen Fertigung.

Entscheidender ist: Ein agiles und somit weitgehend selbstbestimmtes oder -organisiertes Arbeiten setzt bei den Mitarbeitern bzw. Teammitgliedern neben einer hohen fachlichen Expertise beim Lösen gewisser Aufgaben auch eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstführung und -organisation voraus. Zudem müssen sie eine hohe intrinsische Eigenmotivation haben. Dieses Fähigkeiten- und Eigenschaftenbündel ist bei vielen Mittarbeitern (noch) nicht oder nur bezogen auf gewisse (Teil-)Aufgaben gegeben.

Deshalb ist ein sogenanntes agiles Führen, das weitgehend auf eine Selbstorganisation der Mitarbeiter setzt, im Firmenalltag ohne Vorbehalte eigentlich nur möglich

  • bei Mitarbeitern, die bereits eine hohe Routine beim Bewältigen ihrer Aufgaben haben und bei denen das Engagement stimmt, und
  • bei Mitarbeitern, die zum Beispiel in Teamstrukturen eingebunden sind, die gewisse bei ihnen noch vorhandene fachliche und motivationale Defizite unterstützend ausgleichen.

Alle anderen benötigen eine gezielte, den Entwicklungsprozess der Mitarbeiter begleitende Führung, die sich – abhängig von der Situation und vom Gegenüber – mal in einem mal mehr und mal weniger dirigierenden sowie unterstützenden Verhalten zeigt.

Der Mindset ist der Schlüssel zum Erfolg

Bleibt die Frage, warum fällt vielen Mitarbeitern ein weitgehend selbstbestimmtes und -organisiertes Arbeiten so schwer, obwohl nicht wenige Unternehmen in der Vergangenheit – u.a. im Rahmen ihrer KVP-, TQM- und Lean-Initiativen – bereits viele Anstrengungen unternahmen, ihre diesbezügliche Kompetenz zu steigern. Ein zentraler Punkt ist: Viele Unternehmen vermittelten in der Vergangenheit im Rahmen ihrer Initiativen, die Unternehmenskultur zu verändern, ihren Mitarbeitern zwar viel Methodenwissen wie dies aktuell zum Beispiel in den Design Thinking- und OKR-Schulungen oft geschieht. Zu kurz kam hierbei aber nicht selten das Vermitteln, warum ein weitgehend selbstbestimmtes Arbeiten überhaupt nötig ist, das auf eine Änderung des Mindset, also der Einstellungen der Mitarbeiter abzielt.

Nur wenige Unternehmen konfrontierten ihre Mitarbeiter beispielsweise gezielt damit, was sich in den Märkten vollzieht – zum Beispiel

  • in den Schwellenländern,
  • bei den Technologieführern,
  • in verwandten Branchen oder
  • bei den Unternehmen, die die Marktentwicklung verschlafen haben –

um ihnen zu vermitteln, warum für den Erfolg von Unternehmen heute eigenständig und -verantwortlich arbeitende Mitarbeiter nötig sind. Nur wenige vermittelten ihnen zudem mit der nötigen Intensität und Plastizität, welche Paradigmenwechsel sich im Zeitalter der digitalen Transformation in der Wirtschaft und Gesellschaft vollziehen, weshalb die aktuellen Change-Projekte einen anderen Charakter als die Projekte in der Vergangenheit haben – auch wenn gewisse Kernbotschaften wie „Führung muss sich ändern“ sowie „Unsere Mitarbeiter müssen eigenständiger und selbstbestimmter arbeiten“ zumindest weitgehend identisch klingen.

Den Führungskräften das Rückgrat stärken

Entsprechendes gilt für die Führungskräfte. Sie sind in vielen Unternehmen hochgradig verunsichert. Weniger weil sie inzwischen seit Jahrzehnten mit der Forderung konfrontiert werden „Führung muss sich ändern“, sondern weil sie zunehmend nicht wissen, inwieweit Führung bzw. Führungskräfte in ihren Unternehmen künftig überhaupt noch benötigt werden.

Das liegt auch an den Unternehmen. Ihre Top-Entscheider schwadronierten in den zurückliegenden Jahren nicht selten über die holokratische Organisationsform als die Organisationsform der Zukunft statt an ihre Führungskräfte die klare Botschaft zu senden: „Führung wird im digitalen Zeitalter und in der VUKA-Welt immer wichtiger, denn wer oder was soll den Mitarbeitern in einem Unternehmenskontext, in dem alles auf dem Prüfstand steht, sonst den gewünschten Halt und die benötigte Orientierung geben?“. Und statt in Zeiten, in denen fast alles im Umbruch ist, die Weiterbildung der Führungskräfte zu forcieren, wurden in vielen Unternehmen die Führungskräfteentwicklungsprogramme auf Eis gelegt. Entsprechend wichtig wäre es aktuell in vielen Unternehmen, den Führungskräften mit Nachdruck wieder zu vermitteln, wie wichtig sie und ihre Arbeit für den Unternehmenserfolg sind, denn: Ohne starke – das heißt überzeugende und Mitarbeiter mitnehmende – Führungskräfte wird den Unternehmen die digitale Transformation nur schwer gelingen.

Entsprechende Initiativen sind auch nötig, weil Führungskräfte gerade in einem von starker Veränderung geprägten Umfeld eine sehr hohe Selbstreflexionsfähigkeit und eine hohe Kompetenz zur Selbstführung brauchen. Denn in einem solchen Umfeld stehen sie im Betriebsalltag stets vor der Herausforderung, ihr Führungsverhalten immer wieder neu bzw. flexibel und agil der Entwicklung des jeweiligen Mitarbeiters bzw. Teams sowie der jeweiligen Situation anpassen.

Führung erfordert eine hohe Verhaltensflexibilität

Konkret heißt dies: Selbst wenn eine Führungskraft einen Mitarbeiter beim Erfüllen einer Aufgabe agil führte, kann es nötig sein, dass sie, wenn dieser eine andere Aufgabe wahrnimmt, einen scheinbar konträren Führungsstil, also ein stark dirigistisches und unterstützendes Führungsverhalten, zeigt – auch um den Mitarbeiter in seiner Entwicklung zu fördern. Dasselbe gilt bezogen auf die Teams.

Entsprechend hoch muss neben der Sensibilität für die Ist-Situation die Verhaltensflexibilität sowie Selbstreflexionsfähigkeit der Führungskräfte sein. Und hierfür gilt es sie zu qualifizieren – und zwar ähnlich wie sie dies selbst im Rahmen ihrer Funktion bezogen auf ihre Mitarbeiter tun sollten. Das heißt: Die Führungskräfteentwicklungsmaßnahmen sollten, wie bei den Mitarbeitern, stets dem Entwicklungsstand der Führungskräfte sowie ihrer aktuellen bzw. künftigen Funktion in der Organisation entsprechen. Sie sollten zudem diese zwar fordern, aber nicht überfordern, denn nur dann reifen sie mit der Zeit zu den selbstbewussten Führungspersönlichkeiten heran, die die Unternehmen in der VUKA-Welt und im digitalen Zeitalter auf allen Ebenen brauchen.

Die wichtigsten agilen Prinzipien

  1. Kundenorientierung: eine konsequente Ausrichtung der Projekt- und Alltagsarbeit auf die Bedürfnisse der Kunden.
  2. Eigenverantwortlichkeit: eine weitgehende Übertragung der für ihre Arbeit relevanten Entscheidungsbefugnisse auf die Mitarbeiter bzw. (interdisziplinäre)Teams, so dass diese eigenverantwortlich handeln können.
  3. Führung: eine Führung, die weitgehend die (Zusammen-) Arbeit moderiert und die erforderliche Rahmenbedingungen hierfür schafft.
  4. Kooperation: eine bereichs- und funktionsübergreifende Zusammenarbeit z.B. in Scrum- oder Entwicklerteams, in denen alle nötigen Kompetenzen bzw. Kompetenzbereiche vertreten sind, um das übergeordnete Ziel zu erreichen.
  5. Arbeitsweise: eine inkrementelle Arbeitsweise, bei der größere und komplexere Vorhaben, geleitet von einer Vision, nicht vorab im Detail, sondern schrittweise, in sogenannten Sprints geplant werden und den Kunden im Prozessverlauf regelmäßig sogenannte Inkremente – also (Teil-)Lösungen – ausgeliefert werden, die diese bereits nutzen und somit auch ein Feedback über sie geben können.
  6. Qualitätssicherung: ein iteratives Vorgehen, bei dem in den Gesamtprozess immer wieder Reflexionsschleifen eingebaut sind, um aus den gewonnenen Erfahrungen, neuen Informationen usw. Schlüsse für das weitere Vorgehen zu ziehen.

Über den Autor:

Reusche, UweUwe Reusche ist einer der beiden Geschäftsführer des ifsm Institut für Sales & Managementberatung, Höhr-Grenzhausen bei Koblenz, das unter anderem ein „Mindful Leadership“ genanntes Führungskräfteentwicklungsprogramm für Führungskräfte im digitalen Zeitalter anbietet.

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