Vielleicht kennen Sie den Witz, in dem ein Betrunkener nachts unter einer Laterne nach seinem Schlüssel sucht, den er eigentlich irgendwo ganz anders verloren hat. Aber da es unter der Laterne hell ist, und es sich einfacher sucht, schaut er lieber dort.
2021 setzte in den USA ein Trend ein, der mittlerweile Europa erreicht hat: die Great Resignation, die große Kündigungswelle. Mehr und mehr Arbeitnehmer verlassen ihre Arbeitgeber. Mit steigenden Risiken und Kosten für Letztere. Schon vor Corona waren fehlende Fachkräfte der am stärksten bremsende Faktor des Wirtschaftswachstums. Aber auch im Herbst 2021 zeigte eine Deloitte-Studie, dass, Pandemie hin oder Pandemie her, weiterhin der gute alte Fachkräftemangel die größte Gefahr für die deutsche Wirtschaft darstellte.[1]
Die Risiken, dass weitere Mitarbeiter gehen, stehen hoch: In den USA sind 40 % der Angestellten mehr oder weniger stark bereit, zu gehen. Jeder Dritte übrigens auch dann, wenn keine Anschlussbeschäftigung in Aussicht ist! In Deutschland ist die Situation nicht besser. Wie eine neue Gallup-Studie belegt, plant hier fast jeder 4. Mitarbeiter (23 %), innerhalb von 12 Monaten einen Arbeitgeberwechsel. Wenn die Mitarbeiter ihre Vorhaben realisieren, werden bis 2025 mehr als 4 von 10 Angestellten ihre Betriebe verlassen.[2] Schon vor Corona wurden rund drei von vier Kündigungen von Seiten der Arbeitnehmer ausgesprochen. Dabei gilt nach wie vor die seit Jahrzehnten bekannte Einsicht, dass Mitarbeiter zu Unternehmen kommen, aber ihre Führungskraft verlassen.
Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, ist es ebenso wichtig wie erfolgsentscheidend, an den wirklich relevanten Punkten anzusetzen. An jenen also, die tatsächlich dazu führen, dass Mitarbeiter ihren Unternehmen den Rücken kehren. Viele Arbeitgeber versuchen, ihre Angestellten mit finanziellen Zuwendungen zu halten. Und verhalten sich damit vergleichbar dem Schlüsselsucher in der obigen Geschichte. Geld ist ein Hygienefaktor, aber nur in den allerseltensten Fällen, der Grund, warum Mitarbeiter schließlich wirklich gehen.
Arbeitgeber müssen ihre blinden Flecken erkennen
Wie eine neue McKinsey Studie[3] zeigt, segeln Arbeitgeber hinsichtlich der Bedürfnisse ihrer Angestellten in Bezug auf die wichtigsten Bindungsfaktoren regelmäßig im Blindflug durch die aktuelle Thematik. Sie erkennen lediglich den viertwichtigsten Grund (Work-Life-Balance), warum Mitarbeiter ihre Arbeit schätzen. Bei den Top-drei-Merkmalen, weshalb Mitarbeiter kündigen, tun sich dagegen „Blinde Flecken“ auf der Unternehmensseite auf.
Während Arbeitgeber nach wie vor transaktionale Merkmale als wichtigste Bindungsfaktoren unterstellen und damit weiterhin dem alten Führungs-Paradigma der 70er von Möhre, Zuckerbrot und Peitsche anhaften, geht es Mitarbeitern in den 20ern des neuen Jahrtausends um etwas ganz anderes: Gute Beziehungen, menschliche Qualitäten, empathische Führungskräfte, wirkliche Begegnungen und ein tieferes Miteinander. Das sind die Faktoren, die 2022 dazu führen, einem Unternehmen die Treue zu halten.
Chancen und Risiken
Risiken auf der einen, sind Chancen auf der anderen Seite. Nachdem die Mitarbeiter ihre alten Arbeitgeber verlassen haben, werden sie schließlich dort ankommen – und vor allem bleiben, wo ihren Bedürfnissen entsprochen wird. Ein Problem für viele Arbeitgeber ist dabei, dass die Zustände in den Unternehmen durch Bewertungsplattformen transparent sind. Nicht nur, dass mehr als die Hälfte aller Kandidaten vor einer Bewerbung Kununu oder Glassdoor konsultiert, die Mehrheit der begehrten Young Professionals gibt sogar an, sich bei schlecht bewerteten Unternehmen überhaupt nicht mehr zu bewerben.[4] Es muss also einerseits nachhaltig etwas geändert und das andererseits auch noch wirksam kommuniziert werden. Wo kann damit begonnen werden?
- Achten Sie auf toxische Führungskräfte. In der Organisationspsychologie ist seit längerem bekannt, dass Führungskräfte ihre Krankenstände, Fehlzeiten und Fluktuationsquoten mitnehmen. Das war schon früher ein Problem, wird durch die höhere Transparenz heute aber bei der Mitarbeiterbindung und -gewinnung zum entscheidenden Faktor. Im elementarsten Kern legitimiert sich Führung seit jeher dadurch, dass ihr die Mitarbeiter folgen – ist das nicht mehr der Fall, muss für das Überleben der Organisation unbedingt reagiert werden.
- Eröffnen Sie Ihren Mitarbeitern alternative Karrieremöglichkeiten, die über die klassische Führungskarriere hinausgehen. Wertschätzen Sie die Entwicklung zum Fachexperten angemessen.
- Führen Sie Ihre Belegschaft zusammen. Schaffen Sie nach der Pandemie die Möglichkeit, sich wieder zu begegnen. Das gelingt zwar am besten in Präsenz, bedeutet aber nicht, dass Homeoffice kategorisch abgeschafft werden soll. Lassen Sie Ihren Mitarbeitern gewisse Freiheiten, aber seien Sie sich bewusst, dass das Miteinander ein kritischer Faktor ist und dass die digitale Kommunikation nicht die ist, die Menschen zusammenführt. Das ist schon seit fast 10 Jahren durch die Studien von Alex Pentland von Boston MIT zur Wirkung von Social Physics klar belegt.[5]
- Bringen Sie Ihr Recruiting auf Vordermann: Das Handwerkszeug der Personalgewinnung stellt einen kritischen Engpass dar. In viel zu vielen Unternehmen regieren weiterhin Recruiting-Methoden der 90er Jahre, die unnötig den Zugang zum Bewerbermarkt blockieren. Vielerorts wird das elementare Marktgesetz, dass die Nachfrage den Preis bestimmt, ignoriert und es herrscht eine Haltung, die den tatsächlichen Verhältnissen am Fachkräftemarkt einfach nicht mehr gerecht wird: Nicht mehr die Stellen, sondern die Bewerber sind das knappe Gut! Wer das nicht begreift und angemessen reagiert, wird zukünftig leer ausgehen.
Fazit: Wertschätzung und professionelles, zeitgemäßes Recruiting
Um auch zukünftig erfolgreich Personal zu gewinnen und zu halten, kommt es auf ein professionelles, zeitgemäßes Recruiting und auf eine wertschätzende Führung an. Arbeitgeber müssen alte Paradigmen ablegen und jene Bedürfnisse und Erwartungen erfüllen, auf die es Mitarbeitern wirklich ankommt: eine mitarbeiterzentrierte, wertschätzende Kultur und ein starkes Miteinander. Also: Weg von der Laterne und gründlich suchen, dann findet man auch den Schlüssel.
[1] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/fachkraeftemangel-arbeitsmarkt-personal-101.html aufgerufen am 02.05.2022
[2] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/neuer-job-jobsuche-job-wechseln-1.5560877
[3] https://www.mckinsey.com/business-functions/people-and-organizational-performance/our-insights/great-attrition-or-great-attraction-the-choice-is-yours
[4] https://www.humanresourcesmanager.de/employer-branding/arbeitgeberbewertungsportale-zum-employer-branding-nutzen/
[5] https://youtu.be/XAGBBt9RNbc
Über den Autor:
Christian Bernhardt ist Hochschuldozent für nonverbale Kommunikation, Kommunikationspsychologie und Kommunikation im digitalen Raum. Der Fachbuchautor hält Vorträge und Hybrid-Trainings zu den Themen Recruiting sowie Wertschätzende Kommunikationskultur und berät dazu Unternehmen in Deutschland und der Schweiz.