Veränderungen verlaufen in den Unternehmen und ihrem Umfeld meist schleichend. Das heißt, man nimmt sie im Alltag kaum wahr. So auch in der betrieblichen Weiterbildung. Das änderte sich durch Corona schlagartig. Das Virus verhalf vielen neuen Lerndesigns zum Durchbruch.
„Das war eine andere Zeit“, erwidert Klaus Doll lachend auf die Frage, was sich seit der Jahrtausendwende in der betrieblichen Weiterbildung geändert hat. „Damals waren die Seminare noch echte Auszeiten vom Betriebsalltag“, ergänzt der Organisationsberater aus Neustadt an der Weinstadt (D).
Dann berichtet er, wie er in den 90er Jahren, meist bepackt mit mehreren Moderationstafeln und einem Koffer in Seminarhotels fuhr, um dort zum Beispiel mit den Führungskräften eines Unternehmens ein zumeist drei- bis fünftägiges Führungstraining durchzuführen. „Entsprechend viel Zeit hatten wir damals, um uns im Teilnehmerkreis zunächst über die genauen Inhalte des Seminars zu verständigen und diese dann zu bearbeiten“, betont Doll. Heute hingegen dauerten dieselben Seminare meist nur noch ein, zwei Tage, stellt der Berater nüchtern, jedoch ohne Bedauern fest. Denn auch der Charakter der Seminare hat sich in den letzten 25 Jahren verändert.
Seminarteilnehmer ticken anders als vor 25 Jahren
Früher war eine zentrale Funktion von Präsenz-Seminaren und -Trainings auch, dass die Teilnehmer sich persönlich kennen, verstehen und als Person schätzen lernen. Dies geschah zu einem großen Teil während der informellen Gespräche in den Pausen oder abends in der Bar. Diese finden heute in Seminaren kaum noch statt. Statt in den Pausen gemeinsam Kaffee zu trinken und zu schwatzen, ziehen sich die Teilnehmer heute in der Regel mit ihrem Handy in eine ruhige Ecke zurück, um dort zu telefonieren oder ihren Maileingang zu checken, stellt der Berater bedauernd fest. Und abends sitzen die Teilnehmer nur noch selten gemeinsam in der Bar; stattdessen erledigen sie in ihren Zimmern an ihren Laptops noch dringliche Aufgaben oder chatten mit Bekannten.
Durch diese Veränderung des Sozialverhaltens ging eine zentrale Funktion der Präsenz-Seminare weitgehend verloren: die Netzwerkbildung. Deshalb denken viele Unternehmen, so Doll, zu Recht darüber nach, inwieweit man Präsenz-Seminare – die in der Regel eine hohe Investition an Zeit und Geld erfordern – durch Online-Trainings- und -Seminare ersetzen kann.
Die meisten Veränderungen verlaufen schleichend
Ähnlich äußert sich der Weiterbildungsjournalist und Marketingberater für Berater Bernhard Kuntz, der die Entwicklung des Bildungs- und Beratungsmarkts im deutschsprachigen Raum seit über 30 Jahren „wohlwollend kritisch“ begleitet. Auch der Inhaber der PRofilBerater GmbH, Darmstadt (D), ist der Auffassung: „Die Weiterbildungslandschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental gewandelt. Im Alltag nimmt man diese Veränderungen, da sie schleichend verlaufen, aber kaum wahr.“ Sehr deutlich wurden ihm diese jedoch, als er im Oktober mit seinem Unternehmen umzog und sich überlegte: Welche Utensilien, die sich in den zurückliegenden fast 30 Jahren in unserem Büro angesammelt haben, nehme ich in unser neues Büro mit?
Als Erstes wanderten die gesammelten Jahrgänge von zwei, drei Jahrzehnten mehrerer Weiterbildungsmagazine in den Müll. Ihnen folgten zahlreiche Klassiker der Managementliteratur aus dem vergangenen Jahrhundert, denn Kuntz wurde beim Ausräumen klar: In diese Zeitschriften und Bücher habe ich in letzten 10, 15 Jahren nicht mehr geblickt, und dies werde ich auch künftig nicht mehr tun.“ Ebenfalls im Müllcontainer landeten Hunderte von (Lehr-)Videokassetten sowie CDs aus den 90er Jahren, die die Anfänge des E-Learnings bzw. des Computer-Based-Trainings (CBT) in den Unternehmen dokumentieren. Damals waren diese Speichermedien der neuste Schrei, heute sind sie Relikte aus einer vergangenen Zeit.
Die Digital-Technik entwickelt sich rasant weiter
Mit dem Thema E-Learning bzw. computer- und netzgestütztes Lernen begannen sich die Personalverantwortlichen in den Unternehmen laut Aussagen der Wiener Wirtschaftspsychologin und (Online-)Trainerausbilderin Sabine Prohaska verstärkt kurz vor der Jahrtausendwende, also vor etwa 25 Jahren, zu befassen und zwar ausgehend von der Erkenntnis:
- Der Veränderungs- und somit Lernbedarf in den Unternehmen ist heute oft so groß, dass er zentral, also zum Beispiel von deren Personalabteilungen nicht mehr erfasst werden kann. Und:
- Der Weiterbildungsbedarf ist aufgrund der verschiedenen Funktionen der Mitarbeiter und deren unterschiedlicher Vorerfahrung heute oft so individuell, dass er mit zentral entwickelten, standardisierten Weiterbildungsprogrammen alleine nicht mehr befriedigt werden kann.
Deshalb wurde unter dem Begriff „Employability“ bzw. Beschäftigungsfähigkeit in Personalerkreisen lebhaft darüber debattiert, inwieweit die Mitarbeiter künftig selbst dafür verantwortlich sein sollten, dass sie – kurz-, mittel- und langfristig – die Fähigkeiten haben, die sie zum Wahrnehmen gewisser Aufgaben und Funktionen im Unternehmen brauchen. Die Mitarbeiter sollten sozusagen „Selbstentwickler“ werden, betont Jürgen Eisserer, CEO der Menschen im Vertrieb GmbH, Graz (A), und als ein geeignetes Tool hierfür wurden unter anderem elektronische Lernplattformen gesehen, „mit deren Hilfe die Mitarbeiter, das benötigte Wissen sich selbst aneignen können, und zwar dann, wenn sie es brauchen“.
Das E-Learning dümpelte lange Zeit vor sich hin
Zum Einsatz kamen diese E-Learning-Plattformen damals aber meist nur in Großunternehmen, konstatiert Hans-Peter Machwürth, Inhaber des Beratungsunternehmens Machwürth Team International (MTI), Visselhövede (D). Ein Grund hierfür war: Der Aufbau der hierfür erforderlichen IT-Infrastruktur und das Entwickeln der benötigten Lernprogramme war zum damaligen Zeitpunkt noch so teuer, dass sich diese Investition nur bei großen Mitarbeitergruppen lohnte. Entscheidender war jedoch laut Prohaska: Um die Jahrtausendwende waren die Zielgruppen der Weiterbildung „noch weitgehend Baby-Boomer, also keine Digital Natives, sondern Immigrants mit einer eher geringen Digitalkompetenz“. Entsprechend groß waren oft ihre Vorbehalte gegen ein computergestütztes Lernen, weshalb sie dies, wenn überhaupt, nur widerwillig taten.
Deshalb erlahmte in den Folgejahren zunehmend die anfängliche Euphorie vieler firmeninterner Weiterbildner für das Thema E-Learning zumal ein fundamentales Credo damals noch lautete: Online lässt sich zwar das kognitive Wissen bzw. Fachwissen der Mitarbeiter trainieren, Einstellungs- und Verhaltensänderungen bei ihnen lassen sich so aber nicht herbeiführen.
Weiterbildner „verschliefen“ gesellschaftliche Entwicklung
Viele Weiterbildner und mit ihnen externe Berater, Trainer und Coaches übersahen in den Folgejahren denn auch zwei Entwicklungen, die sich in ihrem Umfeld vollzogen.
- Spätestens ab dem Jahr 2007, als das erste iPhone von Apple auf den Markt kam, entwickelten sich die sogenannten Smartphones zu einem alltäglichen Wegbegleiter nicht nur der jungen Menschen. Und:
- Spätestens ab dem Jahr 2010 waren nicht nur die meisten Weiterbildungsteilnehmer Digital Natives mit einer hohen Affinität zur Digital-Technik, sie übernahmen zunehmend auch Entscheiderpositionen in den Unternehmen.
Dies führte laut Machwürth aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung nicht selten zu der anachronistischen Situation, dass im Betriebsalltag zwar alle für die Leistungserbringung relevanten Prozesse computer- und netzgestützt abliefen – auch die Koordination der Zusammenarbeit bei der Projektarbeit; in der betrieblichen Weiterbildung kam die moderne Informations- und Kommunikationstechnik aber nicht zum Einsatz. Und während die Mitarbeiter zum Beispiel privat schon längst selbstverständlich neben Selbstlern-Apps beispielsweise zum Sprachen-lernen , auch sogenannte Coaching-Apps beispielsweise zum Joggen, Abnehmen und Entspannen nutzten, lautete im Business-Bereich noch weitgehend das Credo: Ein Coaching setzt ein persönliches Treffen von Coach und Coachee voraus. Diesen Widerspruch spürten auch die Mitarbeiter, was das Image der firmeninternen Weiterbildung negativ beeinflusste und zum Beispiel die Wirtschaftspsychologin Sabine Prohaska zum Fazit veranlasst: „Der Digitalisierungsprozess in der Wirtschaft und Gesellschaft ging an der Weiterbildung und Personalentwicklung in den Unternehmen über viele Jahre fast spurlos vorbei.“
Corona war ein „Wach-Macher“
Das änderte sich erst mit Corona, denn: In den Pandemiezeiten waren Präsenzseminare nicht oder nur bedingt möglich. Deshalb wurde in vielen Betrieben das Online-Lernen forciert. Das Lernen mit Lern- und Videoplattformen, Foren und Kollaborationstools wurde anfangs aber oft noch als ein minderwertiger Ersatz für das Seminarlernen gesehen. Erst allmählich dämmerte den Verantwortlichen, so die Beraterin, „dass das digitale Lernen eine überfällige Bereicherung der Weiterbildung darstellt – unter anderem, weil sich bei ihm der Fokus weg vom Trainer hin zu den Teilnehmenden verschiebt. „Sie werden viel stärker als beim klassischen Lernen dazu animiert, ihre Lernprozesse selbst zu organisieren und zu gestalten. Zudem dämmerte den Weiterbildungsverantwortlichen mit der Zeit: Die Digital-Technik ermöglicht ganz neue Weiterbildungsdesigns. So werden laut Aussagen des Organisationsberaters Doll heute von den Unternehmen zum Beispiel statt der gewohnten Tageseminare verstärkt auch 1,5- bis 2-stündige Online-Nuggets nachgefragt, denn: „Solche kurzen Lerneinheiten lassen sich gut in den Arbeitsalltag integrieren.“
Verstärkt nachgefragt werden laut Jürgen Eisserer auch „hybride Weiterbildungen“, bei denen die Teilnehmer mal in Präsenz- und mal in Live-Online-Veranstaltungen sowie mal im Plenum und mal alleine oder in Kleingruppen lernen und arbeiten. „Sie machen aus dem Einmal-Event Seminar einen Lernprozess, der meist nachhaltiger wirkt.“
Ein weiterer Vorteil des Online-Lernens ist: Mit ihm sind neue Personengruppen für die Weiterbildung erreichbar – so zum Beispiel
- Mitarbeiter, die nicht außer Haus übernachten wollen oder können, und
- Mitarbeiter, die nicht ein, zwei Tage im Betrieb fehlen können oder möchten.
Ziel: Eine neue Lernkultur entwickeln
In den zurückliegenden 1,5 Jahren haben denn auch viele Unternehmen die technische Infrastruktur aufgebaut, die für ein Online-Lernen bzw. hybrides Lernen, das das Online-Lernen mit einem Präsenz-Lernen verknüpft, erforderlich ist. Die nötige Technik zu implementieren, ist aber nur der erste Schritt, um in Unternehmen eine neue Lernkultur zu etablieren, betont Prohaska, denn: „E-Learning ist nicht nur ein technischer Prozess. Vielmehr gilt es, wenn die Mitarbeiter real in ihrer Entwicklung gefördert und unterstützt werden sollen, auch zahlreiche soziale und emotionale Aspekte zu beachten.“
Deshalb empfiehlt sie Unternehmen zum Beispiel beim Aufbau einer neuen Lerninfrastruktur und Entwickeln neuer Lerndesigns stets zu reflektieren:
- Wer soll diese nutzen?
- Welche Kompetenzen/Eigenschaften sind hierfür nötig? Und:
- Inwieweit sind diese bei den potenziellen „Usern“ bereits vorhanden bzw. müssen sie bei ihnen erst noch entwickelt werden?
Damit in den Unternehmen eine Lernkultur entsteht, bei der das Lernen ein integraler Arbeitsbestandteil ist und sich die Mitarbeiter die nötigen Kompetenzen weitgehend eigenverantwortlich aneignen, sollten aber auch gewisse Rahmenbedingungen gegeben sein. So sollten zum Beispiel Lernzeiten von den Unternehmen auch als solche anerkannt, zur Verfügung gestellt und bezahlt werden – und zwar unabhängig davon, ob die Mitarbeiter im Betrieb oder Homeoffice arbeiten. Dies ist in vielen Unternehmen heute noch nicht der Fall.
Autorin: Ronja Siemens