In der sogenannten VUKA-Welt können Unternehmen ihren Mitarbeitenden oft nicht mehr die gewünschte Stabilität und Sicherheit bieten. Also braucht die Beziehung Unternehmen-Mitarbeiter ein neues Fundament.
Die meisten Menschen haben eine große Sehnsucht nach Stabilität – beruflich und privat. Diese ist oft so groß, dass sie im Alltag
- die Augen zukneifen und
- das Leben in so kleinen Zeitabschnitten betrachten,
dass sie die Veränderung nicht mehr sehen.
Eine solche Reaktion zeigt aufgrund der fundamentalen Veränderungen, die sich zurzeit weltweit vollziehen, immer seltener die gewünschte Wirkung, weshalb mehr Menschen,
- eine Zukunftsangst entwickeln,
- zunehmend gereizt sind und
- in irrationalen Verschwörungstheorien Halt und Orientierung suchen.
Stabilität erweist sich als Illusion
Doch warum ist die Sehnsucht vieler Menschen nach Stabilität so groß? Eine Ursache hierfür ist: In unserem Alltag erfordert es normalerweise wenig Energie, Dinge (scheinbar) stabil zu halten. Verändern hingegen kostet Kraft. Doch reicht dies als Rechtfertigung für ein Festhalten an der Illusion Stabilität? Nein! Wer diesen Tagtraum weiterträumt, macht sich etwas vor.
Doch wie befreien wir uns aus dem Dilemma, dass wir Menschen
- einerseits eine tiefe Sehnsucht nach Stabilität haben und
- andererseits alles im Fluss und Wandel ist?
Diese Frage beschäftigt viele Unternehmensführer. Denn in der Wirtschaft hat das „Alles ist im Fluss“ eine neue Dynamik gewonnen:
- Die Märkte und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändern sich immer schneller,
- die technologische Entwicklung schreitet rascher voran,
- die Produktlebenszyklen werden immer kürzer,
- die Strategien haben eine immer kürzere Halbwertszeit,
- …
Mit der neuen Normalsituation „Dauerunruhe“ leben
Früher konnten Unternehmensführer nach einer Reorganisation oder Neuausrichtung den Mitarbeitenden eine gewisse Konstanz und Sicherheit versprechen. Heute ist oft sogar eine zuverlässige Prognose für einige Monate unmöglich. Deshalb herrscht in zahlreichen Unternehmen eine Art Dauerunruhe-Zustand. Und viele Führungskräfte stecken im Dilemma, dass sie ihren Mitarbeitenden nicht mehr versprechen können:
- „Ihr Job ist sicher“. Oder:
- „Unsere Strategie gilt für die nächsten Jahre.“
Zugleich fordern ihre Mitarbeitenden aber Sicherheit und eine längerfristige Planung.
Seit einigen Jahren geistert deshalb das Akronym VUKA (siehe Kasten) durch die Management-Diskussion. Es fasst formelhaft zusammen, dass wir in einer immer volatileren, unsichereren, komplexeren und mehrdeutigeren Welt leben. Doch was bedeutet das für uns Menschen? Wie gehen wir mit dieser Situation um und finden uns in ihr zurecht?
Bei den Mitarbeitenden der Unternehmen (wozu auch deren Führungskräfte zählen) erlebt man inzwischen oft folgende Reaktionen.
- Reaktion 1: Change-Müdigkeit. Sie zeigt sich unter anderem darin, dass Anpassungsanforderungen mit Lethargie, Fatalismus oder Zynismus kommentiert werden.
- Reaktion 2: Change-Ignoranz. Manche Mitarbeitende haben gelernt, Neuerungen bzw. Herausforderungen einfach auszusitzen – gemäß der Maxime: „Wenn ich mich langsam genug bewege, ist diese Welle vorbei, bevor ich etwas ändern muss.“
- Reaktion 3: aktiver Widerstand. Durch ein Festhalten an Überholtem sowie Endlos-Diskussionen und Stimmungsmache wird mit Zähnen und Klauen versucht, den Status quo zu erhalten.
Selbstverständlich gibt es in den Unternehmen auch Mitarbeitende, die sich auf die Veränderungen einlassen und versuchen das „neue Normal“ aktiv zu gestalten. Doch das Gros leidet leider unter der Dauerunruhe und reagiert zunehmend unwillig auf den Wandel.
Der Antwortversuch „Agile Organisation“
In Management-Kreisen wird seit Jahren häufig das Thema „agile Organisation“ als mögliche Problemlösung diskutiert – also das Implementieren einer Unternehmenskultur, die sich der Veränderungsdynamik bewusst ist und darauf mit einer hohen Anpassungsfähigkeit antwortet. In einem solchen System, so die Hoffnung, organisieren sich die Menschen anders als bisher. Sie entscheiden schneller, tragen Verantwortung und tauschen sich aus.
Doch wer sind die Träger einer solchen Kultur? Die Menschen in der Organisation und ihre Beziehungen zueinander. Also gilt es hier den Veränderungshebel anzusetzen. Dies ist auch nötig, weil in einer agilen Organisation, die soweit möglich auf starre Organigramme, Bereichsgrenzen und Aufgabenbeschreibungen verzichtet, die Orientierungsanker andere als in der klassischen Top-down-Organisation sind. Zudem können sich die Mitarbeitenden bei ihrer Arbeit weniger auf Beschlüsse in der Vergangenheit und Vorgaben beziehen. Sie müssen „wach“ sein und über die Fähigkeit verfügen, einzuschätzen, was gerade passiert, und hierauf sinnvoll zu reagieren. Statt Beständigkeit ist geistige Flexibilität gefragt, statt Dienst nach Vorschrift Neugier, statt Stabilität Entwicklung.
Das wirkt sich auch auf die Beziehung Unternehmen-Führung-Mitarbeiter aus. Wir sind im betrieblichen Kontext ein Beziehungsmodell gewohnt, in dem getroffene Vereinbarungen dauerhaft gelten – seien dies Vereinbarungen bezüglich der Arbeitszeit, Entlohnung, Arbeitsinhalte oder Karrierepfade. Und dies erwarten viele Mitarbeitende weiterhin. Doch wie soll das funktionieren, wenn die Rahmenbedingungen sich ständig ändern? Müssen wir uns dann nicht auf „agile Deals“ zwischen den Unternehmen und deren Führungskräften sowie ihren Mitarbeitenden einstellen? Vermutlich!
Der Beziehungskitt: gemeinsame Werte
Das heißt, die Unsicherheit wird aus Sicht der Mitarbeitenden weiterwachsen. Also werden sie sich zunehmend fragen:
- Worauf kann ich mich noch verlassen? Und:
- Wem und auf was kann ich noch vertrauen?
Damit wird auch die Frage virulenter: Was hält das soziale System Unternehmen noch zusammen, wenn dieses zentrale Bedürfnisse seiner Mitglieder nur noch bedingt erfüllen kann?
Die Praxis zeigt: Das Einzige, was Menschen und Organisationen in Zeiten extremer Verunsicherung stabilisieren kann, ist ein gemeinsames Wertesystem. Existiert dieses, gehen sie gemeinsam durch Dick und Dünn – auch weil ihre Beziehungspartner dann berechenbar bleiben, weshalb Vertrauen entstehen kann.
Wenn in Unternehmen die Veränderungsdynamik so groß wird, dass Vereinbarungen an Wert verlieren, dann gewinnen die gemeinsamen Werte an Bedeutung: Sie schweißen zusammen. Und aus ihnen erwächst der Zusammenhalt, den Planungen und Strategien nicht mehr schaffen können.
In die Unternehmenskultur eintauchen
Doch wie entsteht in Unternehmen eine solche gemeinsame Wertebasis? Was fördert einen entsprechenden Team-Spirit? Wie wächst das hierfür nötige Vertrauen? Die Antwort lautet: Indem das Unternehmen und die Führungsmannschaft die Unternehmenskultur gezielt beeinflussen und prägen. Das ist keine leichte Aufgabe, doch eines der Kernthemen von Führung in der VUKA-Welt.
Kulturentwicklung erfordert eine Art Tiefseetauchen. Denn wenn wir von der Unternehmenskultur sprechen, sprechen wir vom kollektiven Gedächtnis einer Organisation – von den Erfahrungen, aber auch Narben, die im Untergrund wirken und die Haltung und das Handeln der Mitarbeitenden (mit-)prägen. Nur wenn diese ermittelt, thematisiert und den veränderten Rahmenbedingungen angepasst werden, kann eine Kultur entstehen, in der der Change als alltägliche Herausforderung akzeptiert und gelebt wird. Deshalb lautet der Appell: Führungskräfte, zieht eure Schnorchel und Flossen an und steigt mit euren Mitarbeitenden in die Tiefen der das (gemeinsame) Verhalten prägenden Werte und Prinzipien hinab. Denn erst wenn statt der Symptome der eigentliche Kern im Fokus der Betrachtung steht, findet eine wahre Veränderung statt.
VUKA-Welt
Das Akronym bzw. Kürzel VUKA ist in der Managementdiskussion inzwischen nahezu omnipräsent. Es besagt, dass unsere Welt zunehmend unsicher, unberechenbar und mehrdeutig wird.
Das V steht für volatil (flüchtig, schwankend). Es bezieht sich auf die zunehmende Häufigkeit und Geschwindigkeit von Veränderung. Was gestern noch galt, kann heute aufgrund veränderter Rahmenbedingungen ganz anders sein.
Das U steht für unsicher. Es besagt, dass die Zukunft immer weniger vorhersehbar und planbar ist. Wir werden zudem häufiger mit sogenannten „Schwarzen Schwänen“, also unvorhersehbaren Ereignissen konfrontiert.
Das K steht für komplex. Das bedeutet, alles hängt mit (fast) allem zusammen. Zahllose Verknüpfungen, Abhängigkeiten und Einflussfaktoren wollen bedacht sein. Ursache und Wirkung von Entscheidungen sind kaum mehr nachvollziehbar.
Das A steht für ambivalent (mehrdeutig). Das heißt, die Zeit der Königswege ist vorbei. Sowohl-als-auch-Fakten machen das Entscheiden schwierig.
VUKA nimmt zu – doch nicht in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen gleich stark. Wichtig ist es zu ermitteln, in welchen Bereichen VUKA dominiert und in welchen nicht, und welche Interventionen deshalb zielführend sind.
Über den Autor:
Dr. Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Kraus & Partner, Bruchsal. Er ist u.a. Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-provence, der St. Gallener Business-School und der technischen Universität Clausthal.