Raus aus der Passivität und erlernten Hilflosigkeit

Stellen wir uns einen normalen Hund vor: Er springt herum und erkundet fröhlich die Welt. Er wedelt mit dem Schwanz, wenn sein Herrchen kommt und freut sich über sein Leben. Stellen wir uns einen neuen Mitarbeiter an seinem ersten Arbeitstag vor: Er freut sich über die neue Aufgabe, erkundet neugierig die Firma sowie die Kollegen, ist zu allen freundlich und hochmotiviert loszulegen, um zum Wachstum und Gedeihen des Unternehmens beizutragen.

Auf den Hund gekommen

Im Jahr 1967 sperrte der Psychologe Martin Seligman gesunde Hunde in einen Käfig und setzte diesen von Zeit zu Zeit unter Strom. Sobald ein Stromstoß kam, bellten die Hunde, knurrten, rasten durch den Käfig und versuchten, irgendwie zu fliehen oder sich zu wehren. Doch ohne Erfolg. Schließlich fügten sie sich ihrem Schicksal, blieben apathisch liegen und ließen die Stromschläge über sich ergehen.

Dann öffnete Seligman die Türen des Käfigs und setzte ihn anschließend erneut unter Strom. Preisfrage: Wie reagierten die Hunde? Als ich das erste Mal von dem grausamen Experiment hörte, hätte ich erwartet, dass die Vierbeiner schnellstmöglich die Chance zur Flucht ergreifen würden. Doch dafür war es zu spät! Obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, ihr Leiden zu beenden, blieben die psychologisch gebrochenen Kreaturen liegen und ließen sich weiter quälen. Martin Seligman hatte die erlernte Hilflosigkeit entdeckt.

Hilflose Mitarbeiter

Zeitsprung ins Jahr 2024: Wir leben in einer komplexen und chaotischen Welt. Die Kybernetik hat schon vor Jahrzehnten beschrieben, dass sich diese Komplexität nicht mehr top down managen lässt. Organisationsentwickler und Berater beschreiben, was es braucht: mehr Selbstorganisation, Agilität und dezentrale Entscheidungen. Eine Fehlerkultur, damit Mitarbeiter bereit sind, Rückschläge sportlich zu nehmen, und ein Growth Mindset, um zu wachsen und lebenslang zu lernen! Motiviert durch die Erkenntnisse von Frederic Laloux, dynamischen Startup Pionieren und anderen New Work Vordenkern fordern Führungskräfte ihre Mitarbeiter auf: Los! Legt los! Habt keine Angst! Riskiert was! Nutzt eure Spielräume! Seid mutig! Sagt, was ihr denkt! Bitte, bitte: Macht einfach, ihr wisst doch am besten, was in euren Positionen das Richtige ist!

Und was passiert? Das Gleiche wie bei Seligmans Hunden: nichts! Natürlich nicht überall und immer. Aber je größer die Organisation und je länger die Mitarbeiter dabei sind, desto wahrscheinlicher bleibt alles, wie es ist. Unternehmen wundern sich, warum die „befreiten“ Mitarbeiter nichts tun und fragen sich, warum diese „nicht wollen“. Aber das Experiment von Seligman zeigt, dass die Hypothese vom „nicht wollen“ falsch ist.

„Klassiker“ der Führungsrhetorik

Erinnern wir uns an ein paar Schmankerl der destruktiven Parolen und Killerphrasen, mit denen immer wieder Gespräche in Unternehmen beendet und Entscheidungen begründet werden. Hier meine spontanen Top 10:

  1. „Ober sticht Unter.“
  2. „So ist das halt bei uns.“
  3. „Das haben wir schon immer so gemacht.“
  4. „Die Anweisung kommt von oben, da kann man halt nichts machen.“
  5. „Wir sind hier nicht bei wünsch dir was, wir sind hier bei so isses!“
  6. „Sie kennen ja die drei Alternativen: Love it, leave it, change it!“
  7. „Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie ja gehen.“
  8. „Warum ich das mache? Weil ich es kann!“
  9. „So sind halt die Regeln, wer lesen kann, ist klar im Vorteil!“
  • „Sie sollen nicht denken und fragen, Sie sollen machen!“

Aussagen wie diese sind verbale Stromschläge für Mitarbeiter und drücken diese nach und nach in die erlernte Hilflosigkeit. Je nachdem, wo die Mitarbeiter in diesem Prozess stehen, versuchen sie noch, sich zu wehren, zu diskutieren oder kritische Fragen zu stellen, schließlich zieht der Zynismus ein. Es folgen Dienst nach Vorschrift und innere Kündigung. Fremdgesteuert und ohne freie Gestaltungsmöglichkeiten werden Mitarbeiter häufiger krank, auch das Burnout-Risiko steigt. Einige mobilisieren die letzten Kräfte oder erhalten Hilfe und bewerben sich weg. Schon lange ist bekannt: Vorgesetzte nehmen ihre Fluktuations- und Krankenquoten mit.

Die Kraft der Worte

Der japanische Professor Dr. Masaru Emoto zeigte bereits um die Jahrtausendwende, dass destruktive Aussagen die Struktur von Wasser verändern. Auf ein Wasserglas klebte er die Aussage: „Mach das!“ auf ein anderes die Aussage: „Lass uns das zusammen machen.“ Wer die Bilder sieht, erkennt direkt den Unterschied.[1] Menschen bestehen zu rund 65 Prozent aus Wasser.

Neurobiologen haben herausgefunden, dass nicht etwa unsere Gene darüber entscheiden, wie sich unser Leben entwickelt, sondern dass überwiegend das Umfeld entscheidet, welche Teile unserer Gensequenz aktiviert werden. Diese formen die Vorlage, aus denen unser Körper dann Aminosäuren bildet, die als Hormone und andere Botenstoffe unser Gemüt, die Entwicklung unserer Organe und unsere Gesundheit bestimmen.[2] Das psychosoziale Milieu, in dem wir uns befinden, entscheidet, ob wir krank werden oder aufblühen.[3]

Die Kommunikation von wichtigen Bezugspersonen, wie sie Führungskräften in Unternehmen sind, wirkt also nicht nur psychologisch über die erlernte Hilflosigkeit, sondern ebenfalls auf der biochemischen Ebene auf die Struktur des Wassers in den Zellen der Mitarbeiter sowie über die Genexpression auf das hormonelle Niveau der Mitarbeiter. Eine frühere Vorgesetzte sagte mir einmal, sie sei eigentlich eine Feelgood-Managerin, die einfach darauf achtet, dass das Klima gut ist und sich alle wohlfühlen. Damit hatte sie den wesentlichen Aspekt von Führung getroffen.

Warum kündigen Mitarbeiter?

Eine McKinsey Studie aus dem Jahr 2021 zeigte, dass von über zwanzig Kündigungsgründen die beiden wichtigsten mangelnde Wertschätzung durch die Organisation und mangelnde Wertschätzung durch die Führungskraft sind. Tragisch: Die Unternehmen unterschätzten diese beiden Einflüsse total. Sie verorteten sie erst auf den Plätzen 11 und 18![4]

Direkte und indirekte Kosten von Kündigungen

Direkte und indirekte Kosten eingerechnet, kostet jede ungeplante Kündigung rund ein Jahresgehalt des scheidenden Mitarbeiters. Wichtiger als die monetären Kosten sind jedoch die langfristigen Folgen. Durch den Effekt der Emotionalen Ansteckung lösen Kündigungen oft Kettenreaktionen aus, die die Existenz des ganzen Unternehmens gefährden können.

Hinzu kommt: In der Regel gehen die Besten zuerst. Sind die Leistungsträger erst einmal weg, werden die verbliebenen Mitarbeiter schneller und überproportional stärker belastet. Die Gesamtleistung sinkt, die Qualität der Produkte und Dienstleistungen lässt nach, der Service leidet, Kunden wandern ab. Stress und Druck steigen, ebenso die Krankheitsquoten. Der Ruf der Firma verschlechtert sich, die Suche nach neuen Mitarbeitern wird aufwändiger. Irgendwann hat der nächste Mitarbeiter genug, kündigt und versetzt der Abwärtsspirale einen zusätzlichen Schwung.

Wege aus der erlernten Hilflosigkeit

Glücklicherweise überließ Martin Seligman seine Hunde nicht einfach sich selbst, sondern fand Wege, um sie aus der erlernten Hilflosigkeit herauszuführen. Kleine bewältigbare Schritte, bei denen die Hunde wieder eigene Erfolgserlebnisse erleben konnten und der Kontakt zu anderen Hunden, von denen sie am Modell lernen konnten, halfen, die alte Lebensfreude zurückzugewinnen. Im Rahmen seiner weiteren Arbeit wurde Seligman zu einem der Mitbegründer der positiven Psychologie, die Menschen noch heute hilft, zu wachsen, sich zu entwickeln und ihr Potenzial zu entfalten. Werfen wir einen Blick darauf, was im Betrieb unternommen werden kann, um die Mitarbeiter aus der erlernten Hilflosigkeit zurückzuholen.

  1. Kontrolle, Selbstwirksamkeit, Urhebererlebnisse

Wenn wir uns vor Augen führen, dass Hilflosigkeit durch dauerhaften Kontrollverlust, Fremdsteuerung und Handlungsunfähigkeit erlernt wird, erkennen wir, dass der Effekt umgekehrt werden kann, wenn Mitarbeiter in kontrollierbaren Situationen Selbstwirksamkeit erfahren und Urhebererlebnisse realisieren können. So wie uns die Erfahrung der absoluten Hilflosigkeit passiv und apathisch werden lässt, beflügelt es uns, wenn wir eigenverantwortlich Entscheidungen treffen können und erleben, wie unser Handeln zu Erfolgen führt. Werden Mitarbeiter in einem für sie kontrollierbaren Umfeld mit Aufgaben konfrontiert, an denen sie wachsen und die sie auf ihre eigene Art und Weise bewältigen können, kehrt ihre Motivation zurück und ihr Selbstvertrauen wächst.

  1. Passende Herausforderungen und Sicherheit

Eine wichtige Aufgabe der Führung ist, abzuschätzen, wie hoch der Reifegrad eines Mitarbeiters ist, um dann eine zu ihm und seinem Niveau passende Aufgabe, Projekt oder Herausforderung zu finden. Die Herausforderung sollte leicht über dem Kompetenzniveau des Mitarbeiters liegen, damit dieser seine Komfortzone verlassen muss. Gleichzeitig muss er genügend Sicherheit empfinden, um offenzubleiben und das Wachsen als positive Erfahrung zu erleben. Das Sicherheitsbedürfnis lässt sich befriedigen, wenn der Mitarbeiter nicht allein vor der Herausforderung steht, sondern ihr gemeinsam mit einem Kollegen begegnet. Auch Mentoren können Sicherheit bieten und auf Wunsch Impulse und wertvolles Feedback geben, die dem Mitarbeiter helfen, den Bezugsrahmen zu erweitern und neue Wege zu gehen.

  1. Loslassen und vertrauen

Ist die richtige Herausforderung gefunden, ist es an der Führung, zu vertrauen und (wichtig!) loszulassen. Wer dauernd dazwischenfunkt, kontrolliert oder Mikromanagement betreibt, begünstigt eine erneute erlernte Hilflosigkeit.

  1. Sinn vermitteln

Die Top 10 der destruktiven Führungsparolen vermitteln vor allem die Botschaft, dass es bei der Arbeit nicht um Sinn geht, sondern darum, das umzusetzen, was von oben vorgegeben wird. Das Problem dabei: Der Mensch ist ein sinnsuchendes Wesen. Keine Frage wird von kleinen Kindern so gerne gestellt, wie die nach dem „Warum?“ Viele Erwachsene stellen sich diese Frage weiterhin und zwei von drei Mitarbeitern würden sogar für eine sinnvollere Tätigkeit ihre Arbeit wechseln.[5] Eine weitere wichtige Aufgabe der Führung liegt also darin, diesen Wunsch nach Sinn zu bedienen. Über Änderungen und neue Regeln muss wie unter Erwachsenen miteinander gesprochen werden. Idealerweise werden sie gemeinsam entwickelt. Führung kann und darf sich heute nicht mehr auf Positionsautorität und Herrschaftswissen zurückziehen!

Wertschätzung und individuelle Führung auf Augenhöhe

Machen wir uns nichts vor: Genügend Pioniere sind in den letzten 30 Jahren neue Wege gegangen und führen ihre Mitarbeiter mit Wertschätzung und auf Augenhöhe. Sie predigen nicht nur Wasser, sondern trinken es auch selbst. Sie messen nicht mehr mit zweierlei Maß, fördern die Stärken und Entwicklung ihrer Mitarbeiter und arbeiten leidenschaftlich daran, Teams zusammenzuführen sowie Kollegen Spielräume zu eröffnen, um gemeinsam zu wachsen.

Die Erfolge bestätigen ihr Handeln: Hunderte Studien und Beispielfälle zeigen, dass Unternehmen, die die Priorität auf die Kultur und die Mitarbeiter legen, in jeder relevanten Messgröße deutlich besser performen als der Markt. Die Zufriedenheit der Mitarbeiter und Kunden steigt, ebenso Umsätze und Gewinne. Krankenzeiten sinken. Mehr und bessere Kandidaten bewerben sich. Weniger Mitarbeiter verlassen das Unternehmen. Die Organisation wächst als Ganzes zusammen, geht resilienter mit Rückschlägen um und reagiert kreativer sowie flexibler bei anstehenden Veränderungen.

Fazit: Die Möglichkeiten, um Mitarbeiter zurückzugewinnen und aus der erlernten Hilflosigkeit herauszuführen, sind vielfältig. Wichtig ist, dass mit Fingerspitzengefühl vorgegangen wird und jeder Mitarbeiter individuell betrachtet, geführt und gefördert wird. Im Kern geht es darum, Verbundenheit zur Gruppe, Organisation, Führungskraft und Aufgabe zu schaffen und bewältigbare Wachstumsmöglichkeiten zu eröffnen. Diese sollten zu den gemeinsamen Werten, Zielen und Interessen sowie zu den individuellen Stärken des Mitarbeiters passen.

Ein Problem ist, dass die Veränderung nicht auf Knopfdruck erfolgt. In großen Unternehmen wird sie von daher oft den Quartalszahlen geopfert. Das bietet inhabergeführten kleinen und mittelständischen Unternehmen fantastische Chancen, um sich abzugrenzen und mit einer nachhaltigen Strategie die Grundlagen für langfristigen Erfolg zu legen.

[1] Masaru Emoto, Die Botschaft des Wassers

[2] Joachim Bauer, Das Gedächtnis des Körpers

[3] Gerald Hüther, Biologie der Angst

[4] https://www.mckinsey.com/capabilities/people-and-organizational-performance/our-insights/great-attrition-or-great-attraction-the-choice-is-yours

[5] https://www.egonzehnder.com/different-generations-same-ideals?hss_channel=lcp-5652

Über den Autor:

Christian BernhardtChristian Bernhardt ist Dozent, Autor, Berater und Speaker für Lösungen gegen den Fachkräftemangel. Sein Buch „Echte Wertschätzung“ erschien 2022. Es beschreibt, wie es gelingt, Beziehungen zu stärken. Vertrauen zu vertiefen und Teams zu entwickeln. Bernhardt berät Unternehmen und hält Vorträge und Trainings zu Recruiting und Kommunikation in Deutschland und der Schweiz.

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