Hightech, Highspeed, Hightouch

„Sie sparen Zeit.“ Mit diesem Versprechen offeriert uns die Industrie permanent neue Produkte und Dienstleistungen. Doch je intensiver wir sie nutzen, umso stärker stehen wir scheinbar unter Zeitdruck. Und die Kommunikation? Sie reduziert sich auf eine wechselseitige Information.

„Alles wird mir zu viel.“ Dieses Gefühl haben immer mehr Menschen. Sie wissen zunehmend nicht mehr, wie sie alle beruflichen und privaten Anforderungen unter einen Hut bringen sollen. Ähnlich verhält es sich bei den Entscheidern in den Unternehmen. Auch sie wissen immer weniger, wie sie die zahlreichen Herausforderungen, vor denen ihre Organisation steht, mit den vorhandenen Ressourcen in der erforderlichen Zeit bewältigen sollen.

Hightech: Fluch und Segen zugleich

Der zentrale Treiber für diese Entwicklung ist der technische Fortschritt speziell im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie. Er ermöglicht ganz neue Geschäftsmodelle. Zudem veränderte er unsere Art, zu arbeiten und zu kommunizieren so radikal, dass heute die moderne Informations- und Kommunikationstechnik ein permanenter Wegbegleiter von uns ist – beruflich und privat.

Das Paradoxe daran ist: All diese Produkte, wie Computer, Handy & Co, wurden uns mit dem Versprechen offeriert, sie würden uns helfen, Zeit zu sparen, und unser Leben erleichtern. Das tun sie auch. Trotzdem erscheint es so, als würden wir, je intensiver wir sie nutzen, umso stärker unter Zeitdruck stehen und uns gleich Hamstern in einem Laufrad drehen. Ähnlich verhält es sich in den Unternehmen. Obwohl in ihnen heute fast alle Geschäftsprozesse IT-gestützt ablaufen, haben sie zunehmend das Gefühl: Wir können mit den Marktveränderungen immer schwerer Schritt halten – was unter anderem der Hype rund um das Thema Agilität in den zurückliegenden Jahren zeigt.

Highspeed ist der Takt der neuen Zeit

Viele Produkte, die uns helfen sollen, Zeit zu sparen, bewirken bei ihrer Nutzung auf breiter Front offensichtlich das Gegenteil. Ein Beispiel hierfür sind neben den Nachrichten, die wir heute via Messenger-Dienste verbreiten, die E-Mails. Eine Mail ist schneller als ein Brief geschrieben – auch weil man sie nicht eintüten und zur Post bringen muss. Doch die Leichtigkeit und Bequemlichkeit, mit der man Mails verfassen und versenden kann, führt – verknüpft mit den niedrigen Kosten – zugleich zu einem permanenten Anschwellen der E-Mail-Flut. Mit der Konsequenz, dass Führungskräfte heute im Schnitt zwei Stunden täglich mit dem Bearbeiten ihrer Mails beschäftigt sind. Zudem müssen sie, da sie per Mail permanent über Sachverhalte informiert und somit in diese involviert werden, bei ihrer Arbeit mehr beachten, was auch das Gefühl einer Überforderung forciert. Hinzu kommt: Weil die Mails binnen Sekunden zugestellt werden, erwarten ihre Absender auch eine schnellere Antwort. Die Folge: Die Technik, die ursprünglich die Arbeit erleichtern sollte und dies oft auch tut, verursacht vielfach Stress und Zeitdruck.

Ähnlich verhält es sich auf der organisationalen Ebene. Denn die Vorzüge der Digitaltechnik nutzen alle Unternehmen, um ihre Prozesse zu optimieren. Deshalb werden in der gesamten Wirtschaft die Geschäftsprozesse immer schneller und die Innovationszyklen kürzer. Und der effektive Umgang mit der Zeit? Er wird zunehmend ein Erfolgsfaktor, was auch solche Managementbegriffe wie „Just-in-time“ und „time-to-market“ belegen.

Multitasking prägt den Lebens- und Arbeitsalltag

Auf den wachsenden Zeitdruck reagieren viele Menschen privat, indem sie ihr häusliches Umfeld noch stärker technisieren und zunehmend ein Multitasking praktizieren. Sie erledigen also mehrere Dinge parallel. Dabei belegen Studien: Wir Menschen sind schlechte Multi-Tasker. Denn Multitasking bedeutet stets, seine Aufmerksamkeit zu teilen, was zu mehr Fehlern und einem häufigeren Vergessen führt.

Auch in den Unternehmen ist das Multitasking gängige Praxis. Das bringen schon die modernen Arbeitsstrukturen mit sich. Heute haben nur noch wenige Arbeitnehmer eine Stellenbeschreibung mit genau definierten und abgegrenzten Aufgaben. Sie sollen vielmehr im Team vorgegebene Ziele erreichen. Das heißt, sie sind bei ihrer Arbeit auch von der Zuarbeit von Kollegen abhängig und müssen häufiger auf Anliegen von ihnen reagieren. Mit der Konsequenz, dass sie, während sie eine Aufgabe bearbeiten, regelmäßig ihre Mails checken, ob etwas Dringendes zu erledigen ist. Entsprechend schwer planbar wird ihr Arbeitstag. Zudem erledigen sie meist mehrere Aufgaben parallel. Auch das kostet Konzentration und produziert Stress.

Entsprechendes gilt auf der organisationalen Ebene. Früher galt zum Beispiel bei Organisationsentwicklern die Maxime: Nach einem Veränderungsprojekt sollte in einem Unternehmen einige Zeit Ruhe herrschen, damit sich der neue Ist-Zustand festigen und die Mitarbeiter verschnaufen können. Diese guten, alten Zeiten sind vorbei. Heute laufen in den meisten Unternehmen so viele, sich überlappende (Veränderungs-, Innovations- und Transformations-)Projekte parallel, dass das sogenannte Multi-Projekt-Management sich zu einer Schlüsselkompetenz entwickelt hat. Zudem fällt es den Unternehmen zunehmend schwer, ihren Erfolg zu planen, weil sich die Rahmenbedingungen permanent ändern. Entsprechend häufig sind Kurswechsel und -korrekturen nötig.

Persönliche Beziehungen und Kontakte leiden

Das Leben und Arbeiten in einem solchen Umfeld hat Konsequenzen. Studien belegen zum Beispiel, dass Ehepartner immer weniger miteinander und mit ihren Kindern kommunizieren. Und die Zeit, die sie einander schenken? Sie ist oft eine geteilte Zeit, weil sie zugleich mit anderen Dingen wie dem Checken von Mails und Reagieren auf Posts beschäftigt sind.

Ähnlich verhält es sich in den Unternehmen. Sie betonen zwar, ihre Führungskräfte seien für die Entwicklung ihrer Mitarbeiter (mit-)verantwortlich. Doch die Zeit, die Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern face-to-face kommunizieren, sinkt – auch weil heute der größte Teil der firmeninternen Kommunikation und somit Mitarbeiterführung per Telefon und Online-Medien erfolgt; speziell dann, wenn die Mitarbeiter weitgehend im Homeoffice arbeiten.

Wie stark sich das Kommunikations- und Arbeitsverhalten verändert hat, erfährt man als Trainer auch in Präsenz-Seminaren. Früher standen die Teilnehmer in den Seminarpausen beieinander und tauschten sich bei einer Tasse Kaffee über das gerade Gehörte und ihre Praxiserfahrungen aus. Heute ziehen sie sich in eine stille Ecke zurück und checken ihre Mails und Anrufe. Und während sie früher abends in der Bar beisammen saßen, begeben sie sich heute auf ihre Zimmer, um dort zu arbeiten, zu „e-gamen“ oder mit Bekannten zu chatten. Dadurch geht auch etwas verloren, was früher die Qualität bzw. den Wert eines Seminars ausmachte: die Vernetzung. Das heißt: Zwischen den Teilnehmern entstehen keine sozialen Beziehungen mehr, die häufig auch für die Arbeit nützlich wären.

Kommunikation wird oft auf Information reduziert

Ähnliches gilt für Unternehmen. Auch hier geht durch die zunehmend digitale Kommunikation viel Zwischenmenschliches verloren. Denn es macht einen qualitativen Unterschied, ob man nur die Mail einer Person liest oder ihr gegenüber sitzt, ihr in die Augen schaut, ihre körperlichen Reaktionen wahrnimmt und hierauf reagiert. Das schafft eine andere Qualität der Beziehung sowie des wechselseitigen Verstehens; außerdem eine höhere Verbindlichkeit. Deshalb ist es kein Zufall, dass bei der elektronischen Kommunikation viel häufiger Konflikte entstehen und eskalieren.

In der persönlichen Kommunikation lassen sich Menschen auch leichter als Mitstreiter gewinnen. Deshalb ist es problematisch, wenn sich zum Beispiel die Top-Manager eines Unternehmens kaum noch die Zeit nehmen, um Mitarbeiter persönlich über geplante Veränderungen zu informieren. Fakt ist: In vielen Unternehmen wird heute die zwischenmenschliche Kommunikation weitgehend auf eine wechselseitige Information reduziert. Dabei wird zweierlei übersehen:

  1. Menschliche Kommunikation lebt auch davon, dass die Gesprächspartner ihr jeweiliges Gegenüber als Individuum wahrnehmen mit allen Merkmalen, in denen sich ihre Persönlichkeit artikuliert – angefangen bei der Kleidung, über die Mimik und Gestik bis hin zur Art, wie sie mit den Augen kommunizieren.
  2. Der persönliche Kontakt ist auch für die Beziehungsbildung und Entwickeln von Vertrauen wichtig.

Die Identifikation mit dem Unternehmen sinkt

Kommt in einer Organisation die persönliche Kommunikation zu kurz, hat das oft weitreichende Auswirkungen:

  • Die Mitarbeiter fühlen sich weniger beachtet in dem, was sie tun und wie sie es tun,
  • sie fühlen sich weniger als Person gewertschätzt,
  • sie können sich weniger als Ganzes in die Organisation einbringen,
  • Flow-Erlebnisse im Team entfallen und
  • Konflikte werden nicht oder auf dem falschen Weg (zum Beispiel per Mail) ausgetragen.

Dadurch sinkt oft auch die Produktivität.

Eine weitere Konsequenz ist: Das Vertrauen zwischen den Beschäftigten sowie den Führungskräften und ihren Mitarbeitern sinkt. Die Mitarbeiter vereinzeln, was zu einer geringeren Identifikation mit dem Unternehmen führt. Deshalb sollten sich Führungskräfte genau überlegen:

  • Wann und was kommuniziere ich nicht per Mail bzw. digital, sondern im persönlichen Kontakt? Und:
  • Wie fördere ich bei einer virtuellen Zusammenarbeit die informelle Kommunikation, da auch sie für den Beziehungsaufbau wichtig ist?

Denn Fakt ist: Die technische Entwicklung schreitet voran. Deshalb besteht die Gefahr, dass Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern irgendwann fast ausschließlich digital kommunizieren – gerade weil diese Form der Kommunikation so einfach und bequem ist.

Die „Seele“ der Unternehmen bewahren

Die Top-Entscheider in den Unternehmen sollten sich zudem fragen: Wie können wir in unserer Organisation eine neue Balance finden zwischen

  • einem Reagieren auf äußere Zwänge und Wahren der Unternehmensidentität,
  • einem Verändern und Bewahren,
  • An- und Entspannung,
  • Druck-machen und Raum-geben sowie
  • den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen und menschlichen Bedürfnissen?

Sonst besteht die Gefahr, dass ihre Unternehmen seelenlose Wesen werden, mit denen sich die Mitarbeiter immer weniger identifizieren – mit allen negativen Folgen für ihr Engagement. Ohne Phasen der bewussten Entschleunigung und Reflexion besteht zudem die Gefahr, dass ihre Organisationen in einen „blinden Aktionismus“ oder „rasenden Stillstand“ verfallen, in denen zwar vieles, aber nichts Wesentliches mehr geschieht.

Über die Autorin:

Liebermeister-BarbaraBarbara Liebermeister leitet das Institut für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ), Frankfurt. Ende August erscheint im GABAL-Verlag das neuste Buch der Vortragsrednerin und Managementberaterin „Die Führungskraft als Influencer: In Zukunft führt, wer Follower gewinnt“ sowie Betreiberin des Podcasts „Business Secrets“.

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