Eine neue Identität entwickeln und Transformationsprozesse gestalten

Der Begriff Transformation ist zurzeit in aller Munde – ebenso wie der Begriff Zeitenwende. Doch was bedeutet er im Unternehmenskontext überhaupt? Das ist oft unklar!

Was unterscheidet einen Transformationsprozess von einem Changeprozess? Das ist vielen Entscheidern in den Unternehmen unklar. Entsprechend häufig werden in der Managementdiskussion die beiden Begriffe Transformation und Change synonym verwendet. Dabei gibt es zwischen ihnen durchaus Unterschiede.

Nicht jeder Change ist eine Transformation

Das Wort Change bezeichnet schlicht eine Veränderung. So ist es zum Beispiel auch ein Change- oder Veränderungsprozess, wenn in einem Unternehmen die PCs ausgetauscht oder die Wände neu gestrichen werden. Ein Change ist es auch, wenn Abläufe optimiert, Teams neu formiert oder Mitarbeiter eingestellt bzw. entlassen werden. Ein Change kann sich also, er muss sich aber nicht auf alle Ebenen beziehen, die zum Beispiel dem Beratungsdreieck von K&P zugrunde liegen, nämlich die Unternehmensstrategie, -kultur und -struktur (u.a. Prozesse, Abläufe).

Change-Management: das Beratungsdreieck

Ein Change muss zudem nicht, er kann aber auch eine Einstellungs- und Verhaltensänderung der Mitarbeiter erfordern, denn bei ihm wird nicht notwendigerweise ein sogenannter „Musterwechsel“ vollzogen. So ist es zum Beispiel auch ein Change, jedoch kein „Musterwechsel“, wenn in einem Werk eines Autoherstellers die Mitarbeiter fortan Limousinen statt Geländewagen produzieren. Denn dann müssen sie zwar vermutlich einige Handgriffe neu lernen, sie müssen aber nicht ihre Einstellung und ihr Verhalten grundsätzlich ändern.

Anders verhält es sich, wenn ein Autohersteller beschließt

  • „Wir produzieren künftig statt Autos mit Verbrennungsmotoren nur noch E-Autos“ oder gar
  • „Wir entwickeln uns zu einem Mobilitätsanbieter.“

Denn dann ändern sich nicht nur die Prozesse, sondern das gesamte Unternehmen muss ein neues Selbstverständnis bzw. eine neue Identität entwickeln, was auch neue Kompetenzen sowie Denk- und Handlungsmuster bei den Prozessbeteiligten erfordert.

Sich transformieren heißt sich neu erfinden

Generell versteht man unter einer Transformation den Prozess der gezielten Umgestaltung der „genetischen“ Grundstruktur eines Systems – unabhängig davon, ob es sich hierbei zum Beispiel um eine Gesellschaft, ein Unternehmen oder einen Unternehmensbereich handelt. Im Verlauf dieses Prozesses

  • definiert zum Beispiel ein Unternehmen sich selbst und einen großen Teil seiner Beziehungen zu seiner Umwelt neu und
  • hinterfragt neben seiner Strategie und seinem Geschäftsmodell auch seine Geschäftsprozesse und gestaltet diese bei Bedarf radikal um.

Das Unternehmen erfindet sich sozusagen neu; eine Herausforderung, vor der aktuell viele Unternehmen stehen, denn: Durch die Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg haben sich viele Paradigmen des unternehmerischen Handels verändert und sie werden sich unter anderem aufgrund der immer stärker spürbar werdenden Folgen des Klimawandels weiter verändern. Oder anders formuliert: Nicht nur unsere Gesellschaft, auch viele Unternehmen sehen sich aktuell mit einer Zeitenwende konfrontiert.

Ein solch fundamentaler Wandel tangiert alle drei der vorgenannten Ebenen von Unternehmen: ihre Strategie, ihre Kultur und ihre Struktur. Und ihre Mitarbeiter? Sie müssen sich und ihr Verhalten neu definieren und eine neue Identität zumindest bezogen auf ihre Funktion in der Organisation entwickeln.

Die Transformation eines Unternehmens lässt sich am ehesten mit der Metamorphose vergleichen, die viele Insekten im Laufe ihres Lebenszyklus durchlaufen. So gibt es zum Beispiel bei einem Schmetterling die Entwicklungsphasen Ei, Raupe, Puppe und Falter. Und beim Übergang von einem Entwicklungsstadium ins nächste wandelt sich das genetische Material vollständig um. Doch nicht nur dies! Eine Schmetterlingsraupe hat auch andere Fähigkeiten als der Falter am Ende des Entwicklungszyklus: Eine Raupe kann zum Beispiel nicht fliegen.

Das Unternehmen entwickelt eine neue Identität

Ähnlich verhält es sich bei der Transformation eines Unternehmens. Auch in diesem Prozess wird unter Rückgriff auf die vorhandenen Ressourcen wie Erfahrungen, Kompetenzen usw. das System Unternehmen so radikal umgestaltet, dass die transformierte Organisation für Personen, die mit ihr längere Zeit keinen Kontakt hatten, kaum wiederzuerkennen ist, weil sich neben ihrer Strategie, auch ihre Kultur und Struktur gewandelt haben. Das heißt, die Organisation verfügt nicht nur über eine neue Identität, sondern auch neue Kompetenzen, weshalb auch ihre Mitarbeiter teils neue Fähigkeiten und Fertigkeiten brauchen.

Es gibt jedoch auch Unterschiede zwischen der Metamorphose eines Schmetterlings und der Transformation eines Unternehmens. Bei einem Schmetterling ist der Transformationsprozess genetisch festgelegt: Erst Ei, dann Raupe, dann Puppe, dann Falter. Er läuft sozusagen automatisch ab. Dies ist bei der Transformation eines Unternehmens nicht der Fall. Hier gilt es vielmehr ausgehend von einer Vision durch sorgsam geplante Interventionen das System Unternehmen gezielt zu entwickeln bzw. zu verändern.

Transformationsprozesse sind komplexe Changeprozesse

Letztlich ist jeder Transformationsprozess ein komplexer, multidimensionaler Changeprozess, der seinerseits wiederum aus einer Vielzahl von Changeprojekten besteht, die sich wechselseitig beeinflussen. Entsprechend groß muss die Change-Management-Kompetenz der Personen sein, die die Verantwortung für den Transformationsprozess tragen. Sie müssen, um zwei Termini aus dem agilen Projektmanagement zu gebrauchen, inkrementell und iterativ vorgehen. Das heißt, sie müssen im Prozessverlauf immer wieder checken,

  • erzielen wir mit unseren Initiativen die gewünschten Wirkungen und
  • bewegt sich die Organisation in Richtung des angestrebten Ziels

sowie bei Bedarf eine Änderung am Design des Gesamtprojekts vornehmen. Entsprechend groß sollte neben ihrer analytischen, auch ihre kommunikative Kompetenz sein, um den Betroffenen bzw. Beteiligten die Notwendigkeit von Kurskorrekturen zu vermitteln.

Bei Transformationsprozessen ist das Ziel oft unklar

Komplex ist die Aufgabe, Transformationsprojekte zu planen und zu steuern, nicht nur aufgrund der vielen Einflussfaktoren und Wechselwirkungen, die hierbei zu beachten sind.

Hinzu kommt, bei der Metamorphose eines Schmetterlings steht neben dem Ablauf auch das Endergebnis des Transformationsprozesses zu dessen Beginn bereits fest: Aus der verpuppten Raupe wird, sofern sie zwischenzeitlich kein Vogel frisst, ein Falter, der nach wenigen Tagen stirbt.

Anders ist dies bei der Transformation von Unternehmen. Hierbei steht in der Regel auch das angestrebte Endziel des Prozesses unter Vorbehalt – unter anderem, weil dieser sich in einem dynamischen Umfeld vollzieht. So kann heute zum Beispiel noch kein Top-Manager in der Automobil-Industrie mit Gewissheit sagen:

  • Wie werden in 15 oder 20 Jahren die Autos bzw. menschlichen Fortbewegungsmittel konstruiert und gebaut sein?
  • Wer sind dann, sofern wir noch existieren, unsere schärfsten Mitbewerber? Und:
  • Wird es in 20 Jahren überhaupt noch einen motorisierten Individualverkehr geben oder ist dieser dann aufgrund des fortschreitenden Klimawandels zumindest in den Ballungsräumen verboten?

Die Manager in der Automobil-Industrie können sich beim Entwickeln der Vision für ihr Unternehmen also bestenfalls von begründeten Vermutungen, die auf gewissen Trends und Annahmen basieren, leiten lassen. Wie sich der Markt ihres Unternehmens und dessen Umfeld in 10, 15 oder gar 20 Jahren real gestalten, wissen sie aber noch nicht. Trotzdem müssen die Top-Manager heute bereits damit beginnen, ihr Unternehmen zukunftsfit zu machen. Dasselbe gilt für das Management vieler Unternehmen.

Transformationsprozesse erfordern eine hohe Agilität

Deshalb haben die Transformationsverantwortlichen gar keine andere Möglichkeit, als bei der Projektplanung und -steuerung sehr agil zu sein und zu bleiben, selbst wenn die im Rahmen des Gesamtprojekts stattfindenden Teilprojekte dann klassisch oder hybrid gemanagt werden. Entsprechend groß sollte neben ihrer Change- auch ihre Projekt-Management-Kompetenz sein. Zudem sollten sie reife Führungspersönlichkeiten sein, denen die Betroffenen bzw. Beteiligten, wenn nicht gerne, so doch bereitwillig folgen – unter anderem, weil sie ihnen nicht nur aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz, sondern auch Persönlichkeit vertrauen.

Über den Autor:

Georg KrausDr. Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-provence, der St. Gallener Business-School und der technischen Universität Clausthal sowie Autor mehrerer Change- und Projekt-Management-Handbücher.

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