In allen Branchen gibt es längst Pioniere, die die Digitalisierung für völlig neue, noch nie dagewesene Anwendungen nutzen. Doch niemand weiß, wann und wie sie einen ausmanövrieren. Besser also, man befasst sich mit der eigenen Disruption, bevor es andere tun. „Kill the Company“ ist ein möglicher Ansatz.
Disruption bedeutet, dass ein bestehendes Geschäftsmodell, eine bekannte Technologie, eine übliche Dienstleistung oder eine tradierte Kategorie durch eine schlagartig auftauchende Neuheit abgelöst oder weitgehend verdrängt wird. Im Gegensatz zu einer evolutionären Innovation, die Existierendes verbessert und weiterentwickelt, bezeichnet die disruptive Innovation also eine radikale, alles umwälzende Neuerung.
So löste einst auf den Weltmeeren das Dampfschiff das Segelschiff ab. Kein einziger Hersteller von Segelschiffen meisterte diesen Technologiesprung. Ganz im Gegenteil: Die Alteingesessenen versuchten, der neuen Antriebskraft mit mehr Segeln Paroli zu bieten, also mehr vom Gleichen zu tun, statt anders, quer und um die Ecke zu denken. Und das ist fast überall so. Die Glühbirne wurde nicht von einem Kerzenhersteller und das Auto nicht von einem Postkutschenbauer erfunden.
Heutzutage kommen bahnbrechende Disruptionen vor allem von Branchenneulingen aus der Digitalwirtschaft. So ist der Onlinehandel nicht von einem stationären Händler, das internetbasierte Bezahlen nicht von einer Bank, iTunes nicht von der Musikindustrie und WhatsApp nicht von einem Telekommunikationsanbieter entwickelt worden. Digitalunternehmen sind zudem die, die am meisten befürchten, von noch smarteren, schnelleren, kundenrelevanteren Anbietern vom Markt gefegt zu werden.
Im Neuland gibt es keine Erfolgsgarantie
Disruption ist kein Weitermachen im Trippelschritt-Modus auf vertrautem Terrain. Disruption ist völliges Neuland, der Sprung durch die Feuerwand der Unsicherheit. Doch darauf lässt man sich besser ein. Brandschutzmauern errichten? Bringt in diesem Fall gar nichts. Vor urplötzlichen Angriffen ist niemand sicher. Ihnen kann das nicht passieren? Sie sind ja schließlich bedeutend, sogar führend in Ihrer Branche! Das ist der Zukunft egal. Dem digitalen Wandel kann sich niemand entziehen.
So hatte Netflix, heute der erfolgreichste Streaming-Anbieter der Welt, 1997 als DVD-Verleiher begonnen. 2007 wurde dort die Idee vorangetrieben, das eigene Geschäftsmodell von innen heraus zu disrupten: Netflix stieg ins Video-on-Demand-Geschäft ein. Hingegen änderte der seinerzeit unangefochtene Marktführer Blockbuster seine herkömmliche Strategie nicht – und ging 2010 in die Insolvenz.
Der technologische Fortschritt zwingt jedes Unternehmen dazu, sich immer wieder neu zu erfinden. Selbstdisruption bringt dabei gezielt Produkte hervor, mit denen man sich selbst Konkurrenz machen kann. Apple hat wiederholt den Mut dazu bewiesen: beim iPhone, das dem iPod Marktanteile geraubt hat, und beim iPad, das deren Computer kannibalisierte. Sicher ist sogar: Obwohl man sich das kaum vorstellen kann, wird es Handys oder Suchmaschinen in ihrer heutigen Form eines Tages nicht mehr geben.
Gefangen im organisationalen System
„Kacheln im Handy? Die Leute wollen telefonieren!“, meinte ein hochrangiger Nokia-Mann. Der Rest ist Geschichte. Was bedeutet: Wenn sogar Vollprofis bei Disruptionen derart danebenliegen, wie will da ein „Normalo“ akkurate Vorhersagen machen? Wer dies fordert, zwingt seine Belegschaft zur Zögerlichkeit und strandet auf Nummer sicher in vertrauten Gefilden. Doch daran kann kein Zweifel sein: Nicht im Bekannten, sondern im Unbekannten liegen die größten Chancen.
Innovationen brauchen Risikobereitschaft und Courage. Allerdings hängt sich kein Manager in etwas Vages rein und setzt seine Karriere aufs Spiel, solange er an Kurzfrist-Vorgaben gemessen und für Punktlandungen auf Planvorgaben belohnt wird. Sie entscheiden sich vielmehr fast immer dafür, die bestehenden Einnahmequellen zu schützen, statt sich beherzt ins Neuland zu wagen. Das Verteidigen veralteter Strukturen und Vorgehensweisen ist das Top-Hindernis auf dem Weg in die Zukunft.
Neuerungen verlaufen praktisch niemals nach Plan. Sie lassen sich schon gar nicht bis ins Detail vorkalkulieren. Märkte, die noch nicht existieren, können nicht analysiert, höchstens hoffnungsvoll voreingeschätzt werden. Ein Alptraum für den Controller. Der will genaue Zahlen, das ist sein Geschäft. Wie soll unter solchen Umständen Disruptives entstehen? Wer immer zuerst nach Kennzahlen fragt und das Verfehlen von Plansolls ahndet, macht sich zum Totengräber jeglichen Fortschritts.
Ein Weg in die Zukunft: „Kill the Company“
Bevor Sie angegriffen werden, sollten Sie sich besser selbst angreifen – zumindest als theoretische Übung. So können Sie Ihre wunden Punkte ausfindig machen, bevor es andere tun. Ein „Kill the Company“-Workshop ist dafür geradezu ideal. Der Ansatz geht zurück auf Management Consultant Lisa Bodell. Dabei wird der Angriff eines Wettbewerbers simuliert. Dies ermöglicht es Ihnen, eine von außen nach innen gerichtete Perspektive einzunehmen, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.
Ein solcher Workshop muss von der Geschäftsleitung gewollt sein. Dabei ist ein fachlich kompetenter externer Unterstützer als Moderator überaus sinnvoll. Er sorgt für zusätzliche Impulse, für den Blick über den Tellerrand und für „ver-rückte“ Perspektiven, sodass die Teilnehmer nicht nur aus Vorhandenem, sondern auch aus Neuem schöpfen können. Schließlich kann er als „Prophet von außen“ agieren, wenn es gilt, besonders hartnäckige interne Widerstände sachte zu lockern.
Der Teilnehmerkreis ist hierarchieübergreifend und interdisziplinär. Denn alle Bereiche bieten Einfallstore für gewiefte Disruptoren. Unbedingt sollten junge Nachwuchstalente dabei sein. Strukturelle Schwächen, unzeitgemäße Angebote und mangelnde Technologiekompetenz können so durch die Brille der Nachwuchsgeneration betrachtet werden. Denn das ist die Kundengruppe von morgen. Auch junge Externe sind hochwillkommen. Sie kennen keine Skrupel. Sie brauchen auf Animositäten keine Rücksicht zu nehmen. Und bei Beharrungstendenzen bieten sie knallhart Paroli.
Die Teilnehmer sollen es krachen lassen
„Kill the Company“ ist eine Freifahrkarte, um es mal richtig krachen zu lassen. Die Vorstellung vom eigenen Untergang setzt eine Menge Energie frei, um sich kühn an jedes erdenkliche Thema zu wagen. Idealerweise steht zu Beginn ein Impulsvortrag auf dem Programm, der zeigt, wie die Welt in fünf bis zehn Jahren aussehen kann und was dies für das eigene Business heißt. Danach stellt man der Gruppe die Ausgangsfrage:
„Stellen Sie sich vor, Sie sind ein junger Hauptkonkurrent. Sie haben unbegrenzte Mittel und Ressourcen. Was würden Sie tun, um uns zu attackieren? An welcher Stelle sind wir verletzlich? Was aus unserer Leistungspalette wird demnächst überflüssig? Wo und wie würden Sie zügig ansetzen, um uns vernichtend aus dem Feld zu schlagen?“
Bitten Sie nun die Teilnehmer, innerhalb von zehn Minuten so viele konkrete Bedrohungen wie möglich, die Ihr Unternehmen als Ganzes, einzelne Geschäftsbereiche, Abteilungen, Produktkategorien oder Dienstleistungskonzepte zu Fall bringen könnten, auf Haftnotizzettel oder Moderationskärtchen zu schreiben.
Große Gefahr? Kleine Gefahr? Big win!
Je nach Teilnehmerzahl kommen schnell an die fünfzig potenzielle Gefahrenquellen zusammen. Gruppieren Sie diese thematisch. Dann werden sie in die abgebildete Matrix übertragen, die man auf eine Pinnwand zeichnet. Wurde das Gefahrenpotenzial auf diese Art sichtbar gemacht, kommt nun die entscheidende Frage:
„Jetzt, wo wir wissen, was die Konkurrenz uns anhaben kann,
wie können wir dem ganz konkret entgegenwirken?“
Dies lässt sich anhand folgender Fragen präzisieren:
- Für welches Produkt, welchen Service oder welche Innovation würden die Kunden uns ganz sicher verlassen? Und wann würden sie bleiben?
- Welcher Trend hat das größte Potenzial, unser derzeitiges Geschäftsmodell zu entwurzeln? Und was können wir dagegen tun?
- Wenn wir ein Innovation Lab ins Leben rufen könnten, womit sollte sich dieses als Erstes befassen? Was wäre ein „Quick Win“? Und was ein „Big Win“?
- Was hindert uns daran, das Umsetzbare so bald wie möglich in Angriff zu nehmen? Und wie schaffen wir solche Barrieren schnell aus dem Weg?
So wird nicht nur Bedrohungspotenzial rechtzeitig aufgezeigt, man kann auch sogleich etwas dagegen tun. In Einzelgruppen werden nun Pläne für die Zukunft geschmiedet.
Matrix zur Visualisierung von Gefahrenpotenzial für die Zukunft
Das Buch zum Thema
Anne M. Schüller: Querdenker verzweifelt gesucht Warum die Zukunft der Unternehmen in den Händen unkonventioneller Ideengeber liegt
Mit einem Vorwort von Gunter Dueck
Autorin: Anne M. Schüller