Schönwetterwirtschaft war gestern, aktuell tobt der Sturm und es ist wichtiger denn je, die richtigen Leute an Bord zu haben. Diese zu gewinnen gleicht regelmäßig einer Gratwanderung. Einerseits soll die Mannschaft eine hohe Diversität aufweisen, um innovativ und wettbewerbsfähig zu bleiben, andererseits muss auch alles irgendwie unter einen Hut passen. Die Erfahrung zeigt: Wenn neue Mitarbeiter nicht mit den Werten und der Kultur des Unternehmens harmonieren, gibt es mehr Probleme als Lösungen. In Folge dieser Entwicklung hat Cultural Fit Recruiting in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Wenn es gelingt, die Unternehmenskultur abzubilden und Bewerber auf diese zu matchen, können jene Kandidaten eingestellt werden, die wirklich zum Unternehmen und der strategischen Marschrichtung passen. So wird die Fähigkeit der Organisation verbessert, komplexe Probleme zu lösen und im harten Wettbewerb zu bestehen. Die Kultur zu erheben erscheint nur schwer möglich: Sie zeichnet sich ja unter anderem dadurch aus, dass sie unser Denken und Verhalten im Unbewussten prägt und beeinflusst. Es braucht also ein Modell, dass diese, unter dem Radar liegenden, Strömungen erfasst und matcht. Das Problem: Reine Persönlichkeitsmodelle werden der Komplexität, die sich entwickelt, wenn die Persönlichkeiten anfangen, miteinander zu interagieren, nicht gerecht. Glücklicherweise gibt es ein Modell, das einerseits tiefenpsychologische Wurzeln hat, sich aber ebenso für die Team- und Organisationsentwicklung eignet: Das Riemann-Thomann-Modell.
Entstehung und Aufbau des Modells
Stichwort Hamsterkäufe: Wir alle haben im Corona-Jahr 2020 erlebt, wie Angst das menschliche Verhalten beeinflusst. Fritz Riemann belegte schon 1961 in seiner Studie zu den „Grundformen der Angst“, dass unser Verhalten von vier grundlegenden Ängsten geprägt wird. Dabei hatte er eine brillante Idee, die sein gleichnamiges Buch bis heute aktuell hält und zum Longseller mit über 1.000.000 verkauften Exemplaren machte. Um einen universellen Ansatz zu erreichen, orientierte sich Riemann an den beiden elementaren Dimensionen, denen wir alle ständig unterworfen sind: Raum und Zeit. Wie er zeigen konnte, prägt unser individuelles Verhältnis zu diesen beiden Dimensionen unsere Werte, Paradigmen und unser Verhalten in kritischen Situationen. Nachdem der Ansatz zunächst über 25 Jahre im klinischen Bereich verwendet wurde, überführte ihn Christoph Thomann 1988 in die Beratung und entwickelte so das Riemann-Thomann-Modell. Anschließend wurde es von verschiedenen Psychologen und Sozialpsychologen in die Organisationsentwicklung, Führungspsychologie und interkulturelle Forschung übertragen.
Werfen wir einen Blick auf den Aufbau des Modells: Aus der Orientierung in Raum und Zeit ergeben sich zwei Achsen mit je zwei Polen. Diese beschreiben vier verschiedene Strebungen, denen Menschen folgen. Wichtig: Wir alle streben zu jedem der vier Pole, allerdings unterschiedlich stark. Je extremer die Ausrichtung zu einem Pol, desto größer ist zwar das Potenzial in diesem Bereich, aber auch das Konfliktpotenzial mit anderen Bereichen.
Nähe und Distanz
In Bezug auf das Leben im Raum bildet sich die Achse der Abgrenzung mit den Polen Nähe und Distanz. Ich kann mich entweder mit anderen verbinden und versuchen, gemeinsam etwas zu schaffen, oder mich zurückziehen und mein eigenes Ding machen. Näheorientierte Menschen suchen Harmonie. Sie sind selbstlos, verständnisvoll und warmherzig, aber auch konfliktscheu, anhänglich und haben Schwierigkeiten, Nein zu sagen. Distanzorientierte Menschen legen Wert auf Unabhängigkeit. Sie sind selbständig, intellektuell und konfliktfähig, aber auch kühl, unpersönlich und nur bedingt teamfähig.
Dauer und Wechsel
In Bezug auf das Leben in der Zeit ergibt sich die Achse der Berechenbarkeit mit den Polen Dauer und Wechsel. Ich kann Stabilität und Sicherheit anstreben oder mich dem Fluss des Lebens hingeben und versuchen, einfach immer das Beste aus der aktuellen Situation zu machen. Dauerorientierte Menschen bevorzugen Regeln und klare Strukturen. Sie sind verlässlich und bodenständig, können aber zur Risikoscheu, Prinzipienreiterei und Kontrollsucht neigen. Wechselorientierte Menschen mögen Abwechslung und Neues. Sie sind kreativ und improvisieren gerne, neigen aber zu Unzuverlässigkeit und Oberflächlichkeit.
3 Schritte zum Cultural Fit Recruiting
Wie gelingt der Transfer ins Recruiting? Um neue Mitarbeiter passend zur bestehenden Kultur zu rekrutieren, muss zunächst die aktuelle Kultur bekannt sein. Dabei fällt der erste Blick auf den Unternehmer. Seine Persönlichkeit, Werte und Vorstellungen prägen das Unternehmen und das Verhalten seiner Mitarbeiter. Wurde er verortet, folgen die Führungskräfte und das kulturprägende Feld des Unternehmens wird sichtbar. Wichtig: Es geht hier nicht um Gleichmacherei! Wäre alles deckungsgleich, fehlten die nötige Diversität und Reibung, aus denen Neues entstehen kann.
Wenn eine Führungskraft vom Unternehmer abweicht, dann ist das genau richtig. Die verschiedenen Abteilungen im Unternehmen verfolgen ja auch unterschiedliche Aufgaben und Ziele. Ist der Unternehmer beispielsweise ein dynamischer, innovativer Wechsel-Typ, dann gleicht ihn der konservative Dauer-Typ aus dem Finanzwesen aus und hilft, den Betrieb zusammenzuhalten, während der kuschelige Dauer-Nähe-Kollege aus dem HR dafür sorgt, dass es nicht zu frostig oder flatterhaft wird. An dieser Stelle wird deutlich, dass jeder Bereich im Unternehmen sein typisches Heimatgebiet im Modell hat. Ist man sich dessen bewusst, fällt es leichter, neue Mitarbeiter passend zu ihrer Aufgabe im Betrieb zu rekrutieren und weniger nach Sympathie und Ähnlichkeit, wie das sonst allzu oft der Fall ist.
Im dritten Schritt werden die Mitarbeiter der verschiedenen Abteilungen verortet und so die Teamfelder/Subkulturen der Organisation abgebildet. Damit ist die Ebene des täglichen Miteinanders erfasst und neue Bewerber können passend zum Unternehmer, zum Charakter ihrer Abteilung, zum Teamfeld und ihrer direkten Führungskraft ausgewählt werden. Wird ein Selbsttest in die Karrierewebsite eingebunden, verbessert dieser die Möglichkeiten der Kandidaten zur Selbstselektion und damit die Ergebnisse bei der Personalauswahl.
Zum Abschluss zwei wichtige Punkte: Cultural Fit Recruiting mit dem Riemann-Thomann-Modell ersetzt nicht das Matching der fachlichen Qualifikation. Es ergänzt dieses und verschafft einen Einblick in die Zwischentöne und die tieferliegende Veranlagung der Bewerber. Ein weiterer Vorteil: Neben dem oben beschriebenen Abgleich, kann es Aspekte der Team- und Organisationsentwicklung integrieren, die bei der Entwicklung über die Zeit auftreten. In der Abbildung zum Cultural Fit Recruiting erhält beispielsweise Bewerber A die Zusage, weil er besser ins aktuell etwas distanzierte und konformistische Team passt. Soll jedoch dieses Team im Rahmen einer strategischen Ausrichtung der Organisation dienstleistungsorientierter und dynamischer werden, sollte Mitarbeiter B vorgezogen werden, da er den Zielzustand bereits verkörpert und somit hilft, das Team in die gewünschte Richtung zu entwickeln. Auf diese Art und Weise können auch im Rahmen einer strategischen Neuausrichtungen der Organisation einzelne Tätigkeiten, Aufgaben und die sich dadurch ergebenden Stellen im System verortet werden, um sie dann mit den originären Prägungen bestehender Mitarbeiter oder neuer Bewerber abzugleichen.
Über den Autor:
Christian Bernhardt ist Dozent für nonverbale Kommunikation und Kommunikationspsychologie. Sein Fachbuch „Nonverbale Kommunikation im Recruiting“ erschien 2019 bei Springer-Gabler. Er hält Vorträge und Trainings zu den Themen Recruiting und Kommunikation und berät Unternehmen in Deutschland und der Schweiz.