Warum die Führungskraft bei der Personalgewinnung in der Pflicht steht

Nach dem Lockdown-Winter sind alle coronamüde. Noch lodert das Maßnahmen-Feuer, die vollen Auswirkungen werden sich aber erst zeigen, wenn der Rauch verzogen ist. Werfen wir einen Blick in die Zukunft und fragen wir uns, worauf es dann ankommt. Neben der Kriegskasse und einer starken Wertebasis entscheiden in schwierigen Zeiten zwei Dinge über die Überlebensfähigkeit von Unternehmen: Erstens die Substanz der Belegschaft und zweitens, wie gut es die Führung schafft, aus dieser eine starke Gemeinschaft zu formen. Untersuchen wir heute die Substanz.

Gerade in der Krise gilt: Recruiting ist Chefsache!

Der Unternehmer steht für die Kernwerte seines Unternehmens. Am glaubwürdigsten ist es, wenn er sich selbst in den Wind stellt – wie Claus Hipp, der mit seinem legendären Versprechen „Dafür stehe ich mit meinem Namen“ seit Jahrzehnten das Vertrauen von Millionen Eltern im Sturm erobert. Der Unternehmer steht nicht nur nach außen für seine Vision, er weiß auch, wo er mit seiner Mannschaft hinwill. Jetzt liegt es an ihm als gutem Trainer zu entscheiden, welche „Positionen“ er noch verstärken will und welche „Typen“ er dazu braucht.

Steve Jobs machte vor, wie es geht, und rekrutierte über 1000 Mitarbeiter höchstpersönlich. Natürlich ist nicht jeder ein Steve Jobs und ab einer gewissen Unternehmensgröße gibt es gute Gründe, die Verantwortung an die fachlichen Vorgesetzten zu übergeben und sich selbst lediglich ein Vetorecht vorzubehalten. Doch diese Übergabe hat es in sich: Reinhard K. Sprenger bezeichnet nicht ohne Grund die Personalauswahl als die wichtigste Führungsaufgabe überhaupt. Die Gefahr: In der Praxis fehlt regelmäßig das Bewusstsein für die Tragweite dieser Aufgabe. Die Folge sind vergraulte Talente, Imageverlust und Fehlbesetzungen, die die Kosten treiben und die Wettbewerbsfähigkeit gefährden.

Eine Kienbaum-Studie nennt Zahlen: Jede Fehlbesetzung kostet, direkte und indirekte Ausgaben eingerechnet, zwischen 15 und 36 Monatsgehälter. Umso mehr, je größer die Firma, je höher die Position und je später der Zeitpunkt, zu dem sie korrigiert wird. Wie oft wird danebengegriffen? Gemäß Karrierepapst Jürgen Schrader und dem Nachrichtenmagazin Spiegel: im Schnitt jedes vierte bis fünfte Mal. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, die sich zeigt, wenn der Betrieb oder der Mitarbeiter schon im ersten Jahr die Reißleine zieht. Unter dem Radar bleibt es, wenn Letzterer den Kopf einzieht und sich „durchfüttern“ lässt.

Spontane Entscheidungen führen selten zu guten Ergebnissen

Haben Sie tatsächlich solche Mitarbeiter gesucht? Fest steht: Wenn Sie sie nicht geerbt haben, haben Sie sie zumindest eingestellt. Häufige Fehlerquelle dabei: Der Verführung der spontanen Entscheidung zu erliegen. Die Verhaltensökonomik belegt, wie gut und richtig es sich anfühlt, eine flotte Entscheidung aus dem Bauch heraus zu treffen. Einmal scharf hingeschaut und schon erkennt der Profi den geeigneten Kandidaten! Beispielsweise Trigema-Chef Wolfgang Grupp, der einmal bei einem Vortrag vor über 700 Zuhörern erzählte, wie das in Burladingen so läuft: „Ich komme in den Raum, sehe fünf Leute und weiß sofort: den einen, den will ich! Jetzt muss ich noch mit den anderen Vieren Gespräche führen, um dann endlich den nehmen zu dürfen, den ich von Anfang an wollte.“

Das Credo hinter seinen Worten: Meine Meinung als Chef steht, stör mich bitte nicht mit Fakten! Die Reaktion: Erleichtertes Nicken und Grinsen auf den Rängen: Genauso mach ich‘s auch! Alle die da nicken und grinsen sind in bester Gesellschaft: Schon Daniel Kahneman freute sich als junger Psychologe über sein untrügliches Gefühl, mit dem er die Bewerberspreu vom Weizen trennte, während er für die Armee angehende Offiziere rekrutierte. Schmerzlicherweise folgte dem guten Gefühl die Ernüchterung auf dem Fuße, als er später das Feedback der Offiziersschule erhielt, die in der Praxis tatsächlich sahen, wer sich eignete und wer nicht: Kahnemann musste einsehen, dass er genauso gut hätte würfeln können. Das Gefährliche: Trotz dieses Wissens stellte sich bei der nächsten Auswahlrunde das gleiche untrügliche Gefühl erneut ein. Und er lag, wie sich später zeigte, gleich wieder daneben. Wichtiger als die Ernüchterung war aber der Lerneffekt: Im Anschluss entwickelte der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger ein strukturiertes und valides Einstellungsverfahren, das bis heute verwendet wird.

Wer billig rekrutiert, rekrutiert (mindestens) zweimal

Was bringt das Ganze? Ein professioneller Auswahlprozess ist nicht nur aus Kostengründen wichtig. Er verbessert das Arbeitgeberimage, ermöglicht eine strategische Teamentwicklung, bindet Mitarbeiter und bewahrt in Zeiten des Fachkräftemangels Zugang zu den besten Talenten. Darüber hinaus erhöht er die Zufriedenheit und die Effektivität der Belegschaft, senkt dadurch die Krankenkosten, verbessert die Innovationskraft und sichert die Überlebensfähigkeit des Unternehmens. Wer im Wettbewerb um die besten Mitarbeiter mitspielen will, muss sauber rekrutieren. Fehler bei der Personalauswahl können durch spätere Qualifizierung nicht kompensiert werden: Eine „Gurkentruppe“ bringt auch der beste Trainer nicht in die Champions-League.

Zudem gilt: Wer billig rekrutiert, rekrutiert zweimal – wenn nicht noch öfter. Das belastet die Mitarbeiter. Wie sollen diese effizient arbeiten, wenn das Personalkarussell durchdreht und immer wieder improvisiert werden muss? Es ist ja auch so schon genug los. Im Boxen weiß man: Die Schläge, die ins Leere gehen, kosten die meiste Kraft. Wenn ständig neue Mitarbeiter eingearbeitet werden müssen, die dann wieder gehen, ist das kräftezehrend und frustrierend. Unnötige Bewegung und Mitarbeiter, die fehl am Platz sind, stoßen gruppendynamische Prozesse an, bringen Unruhe ins Team und ziehen Energie vom eigentlichen Ziel ab, sie vertreiben Kunden und gute Mitarbeiter. Von daher gilt: Lieber einmal eine solide Grundlage schaffen, als auf Sand zu bauen und später im Chaos zu versinken.

Eignungsdiagnostik und die größten Engpässe

Legen wir den Finger in die Wunde: Welches Unternehmen prüft im Nachhinein, wie gut oder schlecht wirklich rekrutiert wurde? Stattdessen greifen wir zur selbstwertdienlichen Verzerrung und richten die Aufmerksamkeit auf jene Lichtblicke, bei denen alles geklappt hat. Oder schieben bei den anderen den Umständen oder dem Mitarbeiter die Schuld in die Schuhe. Das ist menschlich. Aber nicht professionell. Und unnötig, denn die Eignungsdiagnostik weiß längst, wie gutes Recruiting geht.

Worauf kommt es dabei an? Was braucht es für eine gute Personalauswahl und was steht ihr im Wege? Zwei Dinge: Das Problembewusstsein und die Kompetenz der entscheidenden Akteure. Ersteres beginnt mit der Verkennung der Situation: Meist werden zwar die Mitarbeiter aus dem Personalwesen geschult, aber nicht die Führungskräfte. Selbst in großen Unternehmen und bei Branchenführern kennen Führungskräfte regelmäßig nicht einmal das kleine 1 mal 1 erfolgreichen Recruitings und versuchen sich auf ihre Positionsautorität zu berufen. Das erinnert ein wenig an den Holzfäller, der keine Zeit hat, seine Säge zu schärfen.

Der größte Engpass: das fehlende Bewusstsein für die Notwendigkeit, aktiv werden zu müssen. In Seminaren erlebe ich es immer wieder: Wenn im Rahmen der Transferaufgabe die Recruiter mit einer Führungskraft einen Termin machen sollen, um gemeinsam die kritischen Aufgaben einer zu besetzenden Stelle zu erheben, finden Letztere keine Zeit. Über Wochen und, der Lockdown machte es sichtbar, teilweise sogar über Monate hinweg nicht. Hand aufs Herz: So wenig Zeit, dass man sich in 3 Monaten keine 90 Minuten nehmen kann, kann man einfach nicht haben.

So sieht es 2021 aus: Denjenigen, denen die kritischste Rolle bei einer der wichtigsten Entscheidungen im Unternehmen zukommt, fehlt regelmäßig sowohl das Bewusstsein für deren Bedeutung als auch die erforderliche Kompetenz. Als wenn das nicht schon zwei Probleme zu viel wären, sind sie im Gegenzug zu 90 % der Meinung, diesbezüglich echte Naturtalente zu sein, obwohl sowohl die Erfahrung als auch wissenschaftliche Untersuchungen klar das Gegenteil belegen. Wenn die Fakten dann auf den Tisch kommen, begegne ich regelmäßig großen Augen und nachdenklichem Schweigen – bevor man geradezu hören kann, wie es „klick“ macht. Damit ist dann der erste und wichtigste Schritt – Einsicht – aber auch schon getan.

Vom Anforderungsprofil zu den richtigen Fragen

Nun gilt es, die erforderliche Kompetenz und Professionalität zu entwickeln. Dabei kommt es auf fünf Punkte an: Anforderungsprofil erstellen, die richtigen Fragearten verwenden, strukturiert interviewen, Fehlerquellen ausschalten und die Probezeit nutzen.

Das Folgende mag zunächst trivial klingen, ist aber absolut erfolgskritisch: Wer nicht weiß, was er will, kann es auch nicht bekommen. Besonders wichtig ist das, wenn Stellen regelmäßig besetzt werden oder sich strategisch neu ausgerichtet wird. Erstellen Sie also im ersten Schritt ein Anforderungsprofil. Das gelingt am besten, wenn sich HR, der Vorgesetzte und zwei Mitarbeiter aus der Fläche zusammensetzen und die „Critical Incidents“ erheben. Jene Ereignisse, deren gute oder schlechte Bewältigung darüber entscheiden, ob eine Stelle erfolgreich oder nicht gut besetzt ist. Danach wird noch geklärt, wie sich richtiges, durchschnittliches und falsches Verhalten bei diesen kritischen Punkten zeigt. Der Vorteil: Mit überschaubarem Aufwand hat man schon fast alles, um später eine saubere Auswahl treffen zu können.

Aber nur fast: Wer erfolgreich interviewen will, muss die richtigen Fragen stellen. Jeder Bewerber, dem es halbwegs ernst ist, kennt die Lehrbuch-Antworten auf Klassiker wie „Erzählen Sie mal was von sich“ oder „Warum haben Sie sich bei uns beworben?“. Aber ist die Fähigkeit, sich gewissenhaft aufs Bewerbungsgespräch vorzubereiten generell kritisch, um die offene Stelle erfolgreich zu besetzen? Nur selten. Ein weiterer Fallstrick: Die Standardfragen zielen regelmäßig am Anforderungsprofil vorbei. Auch hier ist bekannt, was wirklich funktioniert: Situative und biografische Fragen und Rückfragen nach dem STAR Prinzip. Dieses erhebt strukturiert die Situation, die damalige Herausforderung, das Verhalten des Bewerbers und schließlich das, was dabei herausgekommen ist. Ihre Fragen sollten Sie aber bitte nicht alle in einer Interviewrunde stellen. Anstelle von aus der Hüfte geschossenen erstbesten Entscheidungen, sollten Sie den Bewerber mindestens 3-mal sehen, bevor Sie zu- oder absagen.

Fehlerquellen trockenlegen & Probezeit nutzen

Hilfreich ist ein strukturierter Interviewleitfaden. Er stellt sicher, dass jedem Bewerber die gleichen Fragen gestellt werden. Neben anderen Vorteilen reduziert das auch die Wahrscheinlichkeit, dass zu 80 % die Führungskraft redet, um ihrem Wunschbewerber das Unternehmen zu verkaufen. Dass das nicht funktioniert, wissen wir aus dem Verkauf. Im Recruiting gilt: Die besten Ergebnisse erzielen Sie, wenn die Redeanteile ausgeglichen sind. Genauso wichtig: Interviewen Sie den Bewerber mindestens zu zweit, wer allein ins Gespräch geht, kann genauso gut zur Münze greifen. Was Sie dagegen allein treffen sollten, ist die Entscheidung nach dem Interview. Treffen Sie diese anhand Ihrer Notizen, halten Sie das Ergebnis schriftlich fest und tauschen Sie sich erst dann mit dem oder den Kollegen aus.

Was ist noch wichtig? Sie müssen die Hindernisse, die einer erfolgreichen Auswahl im Wege stehen, kennen. Wenn ich nicht weiß, was mich sabotiert, bin ich diesem hilflos ausgeliefert. Es gibt rund zwei Dutzend solcher Saboteure, zum Beispiel die oben bei Grupp und Kahnemann beschriebenen – oder den Ähnlichkeitsbias, bei dem Schmidt am liebsten Schmidtchen einstellt. Diversity und Innovation geht anders. Ebenfalls beliebt: Der Erwartungsanker, bei dem Bewerber mit dem früheren Stelleninhaber verglichen werden. Dass dieser in der Rückschau idealisiert wird, und dass dabei nur selten die wirklich relevanten Kompetenzen getroffen werden, macht das Vorgehen nicht ungefährlicher. Im Kern läuft es auf die Bildung von Stereotypen hinaus, die sowohl den früheren Kollegen als auch die neuen Bewerber auf ihre auffälligsten Merkmale reduzieren.

Die Auswahl muss sich am Anforderungsprofil orientieren und nicht am Nasenfaktor!

Bevor der falsche Eindruck entsteht, eines in aller Klarheit: Die Intuition der Führungskraft kann und soll bei der Auswahl nicht außen vorgelassen werden. Wenn sich Ihr Bauchgefühl warnend meldet, dann sollten Sie das weiterhin und unbedingt beherzigen. Wovor Sie sich aber hüten müssen, ist eine voreilige Entscheidung auf Basis eines verführerischen ersten Eindrucks oder anderer Heuristiken. Diese öffnen Fehlentscheidungen Tür und Tor und lassen den ganzen Prozess zum Glückspiel verkommen.

Damit wären die wichtigsten Punkte benannt und hinter die Einstellung könnte eigentlich ein Haken gesetzt werden, würde nicht noch der letzte Schritt zur erfolgreichen Auswahl fehlen. Ferdinand Piëch kannte diesen: „Ob jemand wirklich für eine Tätigkeit taugt, kann man erst entscheiden, wenn er den Job tatsächlich verrichtet.“ Also halten Sie die Augen, Ohren und vor allem die abschließende Entscheidung offen, bis die Probezeit vorbei ist und legen Sie sich erst dann fest.

Vielleicht fragt sich der eine oder andere gerade: Vergraule ich mit dem ganzen Procedere nicht die Bewerber? Das Gegenteil ist der Fall: Was nichts kostet (nicht nur an Geld, sondern auch an Zeit und Einsatz), ist nichts wert! Die Sozialpsychologie belegt, dass wir einer Gemeinschaft umso verbundener sind, je mehr wir uns anstrengen mussten, um aufgenommen zu werden. Wenn die Bewerber merken, dass es ein fairer Prozess ist, der da gerade läuft, danken sie es mit Treue und Loyalität. In einem solchen Fall schätzt man die Zusage höher und gleichzeitig fällt es leichter, eine Absage sportlich zu nehmen. Und es beim nächsten Mal vielleicht sogar wieder zu versuchen

Fassen wir zusammen: Die wichtigsten Faktoren in und nach der Krise sind das Miteinander und die Substanz der Mitarbeiter. Da die zukünftige Führungskraft das Gesicht des Unternehmens zum Bewerber ist und da sie die Entscheidung trifft, stellt ihre Kompetenz den zentralen Engpass für die Qualität im Recruiting dar. Personalgewinnung ist und bleibt also Chefsache. Führungskräfte, die sich dieser Verantwortung nicht stellen, handeln fahrlässig.

Über den Autor:

Christian Bernhardt ist Dozent für nonverbale Kommunikation und Kommunikationspsychologie. Sein Fachbuch „Nonverbale Kommunikation im Recruiting“ erschien 2019 bei Springer-Gabler. Er hält Vorträge und Trainings zu den Themen Recruiting und Kommunikation und berät Unternehmen in Deutschland und der Schweiz.

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