Müssen wir alle zu KI-Verstehern werden

Ja, Krisen zerstören. Sie öffnen aber auch Türen. Sie sorgen für Aufbruch, für Umbruch und Neuausrichtung. So ist Corona zu einem Innovationsbeschleuniger in Sachen Digitalisierung geworden. Menschliche und künstliche Intelligenzen werden nun immer enger zusammenarbeiten. Nur der, der neue Technologien willkommen heißt und lernt, mit ihnen zu kollaborieren, liegt zukünftig vorn.

Wir Menschen punkten mit einer Unmenge von Dingen, die künstliche Intelligenz (KI) noch nicht kann: mit Humor, mit Empathie, mit Instinkten, Impulsivität, Spiritualität, mit dem Spiel der Sinne, Kontexterfassung, Fingerspitzengefühl, Improvisationstalent, Verhandlungsgeschick und gesundem Menschenverstand. Und ganz besonders mit der Lust am Sozialen, das, was der Anthropologe Lionel Tiger „Sociopleasure“ nennt.

Wer es auf solchen Gebieten zur Könnerschaft bringt und sich zudem in technologischer Hinsicht weiterentwickelt, ist im Digitalzeitalter vorn. Die Industrialisierung revolutionierte die Körperarbeit, die Digitalisierung krempelt nun die Hirnarbeit um. Vor allem nehmen uns künstliche Intelligenzen die stupiden Arbeiten ab, so dass wir uns hochwertigeren Aufgaben und smarteren Berufsbildern zuwenden können.

Diese haben vor allem mit Innovieren, Adaptieren, Kombinieren, Experimentieren, Koordinieren, Kollaborieren, Flexibilisieren, Individualisieren und Emotionalisieren zu tun. Solche Fertigkeiten verlangen Anpassungsvermögen und, überaus wichtig: Gespür sowohl für die Menschen als auch für die neueste Technologie.

Was menschliche Intelligenz zu bieten hat

Menschliche Intelligenz (MI) kann durch einen ungeheuren Variantenreichtum punkten. Unter anderem gibt es die logische, sprachliche, musikalische, räumliche, somatische und emotionale Intelligenz. Um uns fit für die Zukunft zu machen, müssen wir nun noch rasch zwei neue Intelligenzen entwickeln:

  • die adaptive Intelligenz, die sich auf die ständig neuen, unaufhaltsam auf uns einprasselnden Umstände schnell und flexibel einstellen kann, und
  • die digitale Intelligenz, die Technologien so weit durchdringt, dass sie das Echte vom Falschen und das Gute vom Bösen unterscheiden kann.

Ist das erlernbar? Ja klar. Ab 50 lernt man nichts mehr? Pah! Unser Gehirn ist eine lebenslange Baustelle, die Wissenschaft nennt das Neuroplastizität. Durch ausreichendes Wiederholen entwickeln sich Automatismen, die vom Bewussten ins Unterbewusste, dem sogenannten Autopiloten, rutschen. Hierdurch werden Abläufe routinierter, gewandter und wirkungsvoller.

Bedeutsam ist zudem die auf den Persönlichkeitspsychologen Raymond Bernard Cattell zurückgehende Unterscheidung zwischen fluider und kristalliner Intelligenz. Fluide Intelligenz umfasst Fähigkeiten wie schnelle Auffassungsgabe, bewegliches Handeln und das Hervorbringen origineller Problemlösungen. Die fluide Intelligenz nimmt tendenziell mit dem Alter ein wenig ab.

Die kristalline Intelligenz hingegen nimmt im Alter zu. Zu ihr gehören ein breites Wissen, durch Erfahrung genährte Intuition und der Blick für Zusammenhänge. Fluide und kristalline Intelligenzen werden im Unternehmen gebraucht. Sie müssen miteinander verknüpft werden und zusammenwirken.

Was künstliche Intelligenzen zu bieten haben

In westlichen Kulturen werden Denkmaschinen und Roboter meist als Bedrohung gesehen, die eines Tages womöglich die Menschheit vernichten – ein Glaube, an dem die amerikanische Filmindustrie nicht ganz unschuldig ist. In asiatischen Kulturen hingegen gelten Roboter als etwas Gutes. Deshalb kommen sie dort auch so niedlich daher. In humanoider Form sind sie viel kleiner als wir, um uns keine Angst zu machen. Und ihre Gesichter entsprechen dem Kindchenschema. Das macht sie annehmbar und erleichtert den Zugang – ein Umstand, der die fernöstliche Wirtschaft boomen lässt.

Westliche Roboter hingegen sehen meist wie Erwachsene aus. Wir gehen mit ihnen auf Konfrontation und übertragen unsere Furcht vor ihnen auf jede Art von KI. Doch statt Panikmache und Abwehr sollten wir uns besser – ohne Blauäugigkeit und mit wachem Blick auf die Risiken – mit der Ausgestaltung von Chancen befassen. Und statt über den Verfall von Arbeitsplätzen zu lamentieren, sollten wir uns lieber für die Berufe der Zukunft rüsten. Die Mensch-Maschine-Kooperation ist ein unumgänglicher Weg.

KI kann zigtausend Dinge tun, die im betrieblichen Alltag wertvoll sind, um die qualitative Arbeit der Beschäftigten zu erhöhen, wie etwa dies: Prozesse optimieren, Interaktionen automatisieren, Wahrscheinlichkeiten algorithmieren, Vorhersagen treffen. Menschen hingegen sind genau dann gefragt, wenn kontextbezogene frische Herangehensweisen benötigt werden, die man auch mit einer Fülle von Daten nicht “berechnen” kann. Ideen mit Charakter sozusagen.

Wenn es hingegen um Effizienz, Schnelligkeit, große Stückzahlen, Informationsberge, niedrige Kosten, reine Routinen und/oder um das Bewältigen repetitiver, anstrengender, schmutziger, ungesunder und gefährlicher Arbeiten geht, liegt die künstliche Intelligenz vorn. Sie lernt irre flott, weil sie auf riesige Datenmengen zugreifen kann und diese in Bruchteilen von Sekunden verarbeitet und miteinander vernetzt. Sie braucht höchstens Stunden da, wo Menschen Wochen, Monate, Jahre brauchen.

Wie KI die Arbeit und das Lernen verändert

Jobs werden nicht weniger, sondern anders, nämlich hochwertiger und damit auch anspruchsvoller. Und sie verändern sich ständig. Das wiederum bedeutet: Damit die Beschäftigten mit den Herausforderungen der zukünftigen Arbeitswelt Schritt halten können, sind lebenslanges Lernen, hohe Flexibilität und ständige Wandelbereitschaft ein Muss. Die üblichen Standardweiterbildungsprogramme, durch die klassischerweise so ziemlich jeder durchgeschleust wird, ob er das braucht oder nicht, sind obsolet.

Also Schluss mit dem Vorratslernen von Inhalten, die man nicht braucht. Das langweilt und schafft Gleichgültigkeit. Schluss auch mit verordneten Trainings und Einheitsprogrammen. Sowas bringt wenig Nutzen und verschlingt eine Unmenge Geld. In Zukunft muss die Mitarbeiterentwicklung präzise und „just in time“ auf die individuelle Situation zugeschnitten werden. Sie erfolgt in Häppchen und interaktiv, meist mithilfe von Online-Modulen, die von überall aus abrufbar sind.

So sind Schulungen, die früher tagelang dauerten, heute per KI-Mentoren oder via VR- und AR-Tutorials, also über Brillen, die einen mit der virtuellen Welt verbinden, innerhalb weniger Stunden absolvierbar. Hemmschwellenfrei kann man sein Wissen auch im Dialog mit digitalen Assistenten vertiefen. Zudem lernt die Belegschaft miteinander, indem sie selbstmotiviert entsprechende Circles, also Lernkreise bildet und ihr Wissen in Learning Communitys teilt. Neben einer situativen Weiterentwicklung durch den Arbeitgeber ist dabei auch Eigeninitiative gefragt. Wer seine digitalen Kompetenzen nicht ständig aus eigenem Antrieb erhöht, entsorgt sich zukünftig selbst.

Das Buch zum Thema – jetzt auch als Hörbuch

Anne M. Schüller, Alex T. Steffen
Die Orbit-Organisation
In 9 Schritten zum Unternehmensmodell
für die digitale Zukunft
Gabal Verlag 2019, 312 Seiten
ISBN: 978-3869368993
Finalist beim International Book Award 2019

Wissen vermehrt sich, wenn man es teilt:
Anne M. Schüller
Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenfokussierte Unternehmensführung. Sie zählt zu den gefragtesten Rednern im deutschsprachigen Raum. 2015 wurde sie für ihr Lebenswerk in die Hall of Fame der German Speakers Association aufgenommen. Vom Business-Netzwerk LinkedIn wurde sie zur Top-Voice 2017/2018 und vom Business-Netzwerk XING zum XING-Spitzenwriter 2018 gekürt. Zu ihrem Kundenkreis zählt die Elite der Wirtschaft. Ihr Touchpoint Institut bildet zertifizierte Touchpoint Manager aus. Ihr neues Buch heißt: Die Orbit-Organisation. Das Buch ist nominiert für den International Book Award 2019.

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