Beim Entwickeln von Strategien für die Zeit nach der Corona-Pandemie können Unternehmen aktuell eigentlich nur auf Szenarien bauen. Dabei stoßen sogar erfahrene Strategieentwickler auf Schwierigkeiten, denn: Über die Rahmenbedingungen nach der Krise kann man zurzeit nur spekulieren.
Wenn Unternehmen Strategien entwickeln, fließen in diese stets Annahmen ein – zum Beispiel darüber, wie sich der Markt oder die Technik entwickelt, denn: Strategien nehmen die Zukunft gedanklich vorweg.
Eine gängige Methode zum Entwickeln der den Strategien zugrunde liegenden Prognosen und zur strategischen Planung ist die Szenariotechnik. Ihr Ziel ist es, mögliche künftige Entwicklungen gedanklich vorweg zu nehmen, zu analysieren und möglichst zusammenhängend so zu beschreiben, dass hieraus zunächst
- Ziele, dann
- Handlungsstrategien und hieraus wiederum
- Maßnahmen
abgeleitet werden können.
Wie die strategische Entscheidungsfindung und Planung mit Szenarien funktioniert, konnten seit Mitte März alle Interessierte in den Corona-Talkrunden im Fernsehen live miterleben. Dabei stellten sie nicht selten frustriert fest: Manch vermutlich zielführende Maßnahme kann aufgrund der Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel, dass die nötige Schutzkleidung fehlt, nicht realisiert werden. Also muss nach alternativen Wegen gesucht werden, um solche Zwischenziele wie „Unser Gesundheitssystem soll nicht kollabieren“ zu erreichen.
Auch die Experten sind am Spekulieren
Eine weitere Erkenntnis war: Auch die Experten sind, wenn sie vor einem neuen, komplexen „Problem“ stehen, unterschiedlicher Meinung. So waren anfangs zum Beispiel einige Virologen der Auffassung, das Corona-Virus sei nicht gefährlicher als eine normale Grippe. Entsprechend „konservativ“ waren die von ihnen geforderten Gegenmaßnahmen. Andere Experten hingegen waren überzeugt: Es müssen radikale Maßnahmen ergreifen werden; sonst gibt es allein in Europa Millionen Tote.
Und zwischen diesen Vertretern des sogenannten „Best case“ und „Worst case“ saßen die eigentlichen Entscheider, die Politiker, die letztlich entscheiden mussten,
- wie gefährlich schätzen wir das Virus ein,
- welchen Zielen räumen wir welche Priorität ein und
- wie können wir diese am ehesten und mit den geringsten Kollateralschäden erreichen.
Entscheider haben wenig Fakten beim Entscheiden
Auch bei der Entscheidungsfindung in den Unternehmen spielt die Szenario-Technik eine wichtige Rolle. Eher gering war deren Bedeutung noch zu Beginn der Corona-Krise. Denn nach dem Ausbruch der Pandemie in Europa und dem Lockdown wurde das Virus auch für viele Betriebe existenzgefährdend. Also mussten die Top-Entscheider ratz-fatz die erforderlichen Akutmaßnahmen ergreifen, um zum Beispiel die Liquidität ihrer Unternehmen zu sichern. Erst danach wendete sich ihr Augenmerk allmählich der Frage zu: Was können wir tun, um die Existenz unseres Unternehmens mittel- und langfristig zu sichern und aus der Krise eventuell sogar gestärkt hervor zu gehen?
Recht einfach ließ sich diese Frage bezogen auf die vielen Kleinunternehmen wie Gastronomiebetriebe und Friseursalons beantworten, deren Markt primär ein lokaler ist: Wenig! Bei ihnen lautete die Kernfrage: Haben sie die finanziellen Ressourcen, um die Krise zu überstehen?
Komplexer stellt sich die Situation bei den meisten größeren Unternehmen dar, deren Markt ein nationaler oder gar globaler ist. In ihnen sehen sich sogar erfahrene Entscheider beim Versuch, die Frage „Wie geht‘s weiter?“ zu beantworten, mit unbekannten Schwierigkeiten konfrontiert, denn:
- Einerseits sind der weitere Verlauf der Corona-Krise und ihre Folgen weltweit noch nicht abschätzbar, doch
- andererseits ist schon klar: Die Rahmenbedingungen verändern sich für die meisten Unternehmen so stark, dass sie ihre bisherigen Strategien grundsätzlich überdenken müssen.
Die Entscheider müssen die Krise erst „begreifen“
Wie vielschichtig und komplex der Change- oder Transformationsprozess im Gefolge der Krise ist bzw. sein wird, wird den Entscheidern meist erst bewusst, wenn sie die Ist-Situation reflektieren. Dann sehen sie sich plötzlich mit einem Berg offener makro- und mikroökonomischer Fragen konfrontiert: Fragen, auf die man eigentlich eine Antwort bräuchte, wenn man eine Mittel- und Langfriststrategie entwerfen möchte. Doch anders als bei der Strategieentwicklung in normalen Zeiten können sich die Unternehmensführer aktuell bei ihrer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung auf
- wenig belastbare Daten, die ihnen zum Beispiel ihr Controlling liefert, und
- nachhaltige Trends, die ihnen Marktforschungsunternehmen prognostizieren, stützen.
Sie können letztlich nur Hypothesen formulieren und hierauf aufbauende Szenarien entwerfen. Dies tun die Entscheider auch, denn: Es ist und bleibt ihre Aufgabe, in ihren Organisationen jetzt die Weichen für die Zeit nach der Krise in Richtung Erfolg zu stellen.
Bei der Strategieentwicklung „agil“ bleiben
Hierbei können sie, um zwei Termini aus dem agilen Projektmanagement zu gebrauchen, letztlich nur iterativ und inkrementell agieren. Sie können also aufgrund ihres jeweils aktuellen Wissensstands stets nur vorläufige Strategien und hierauf aufbauende Maßnahmenpläne entwickeln, um dann regelmäßig zu überprüfen: Waren die Annahmen, die ihnen zugrunde lagen, richtig oder müssen wir unsere Strategie modifizieren?
Bei der Strategieentwicklung entwerfen die Entscheider in der Wirtschaft wie die Politiker zunächst unterschiedliche Szenarien, also Zukunftsbilder. Hierzu zählt der sogenannte „Worst case“ – also das Zukunftsbild, das entsteht, wenn aus Sicht des Unternehmens alles negativ läuft. Annahmen, die dem Worst case eines Unternehmens aktuell zugrunde liegen können, sind:
- Die Corona-Krise wird über viele Jahre das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben bestimmen, weil kein passender Impfstoff gefunden wird.
- Ein großer Teil unserer Zielkunden und viele Staaten werden zahlungsunfähig und entsprechend gering wird ihre Investitionsfähigkeit sein.
- Unsere Lieferketten für die Rohstoffe x und y brechen nachhaltig zusammen und entsprechend eingeschränkt ist unsere Produktionsfähigkeit.
Sozusagen das positive Gegenbild zum „Worst case“ ist der „Best Case“. Er beschreibt das Zukunftsbild, wenn aus Unternehmenssicht alles optimal verläuft. Annahmen, die ihm zugrunde liegen, können sein:
- Es gelingt bis Frühjahr 2021 einen Impfstoff zu entwickeln und in großen Mengen industriell zu fertigen.
- Die Kaufkraft unserer Zielkunden wird durch die Krise nicht sinken. Zudem werden die Förderprogramme vieler Staaten unseren Absatz puschen.
- Die Preise für die von uns benötigten Rohstoffe/Teile werden dauerhaft sinken. Deshalb können wir günstiger produzieren.
Das Entwickeln des Best case und Worst Case dient auch dazu, den Horizont der Entscheider für den Möglichkeitsraum zu erweitern – also dafür
- „Was könnten mögliche Konsequenzen der Corona-Pandemie sein?“ und
- „Welche Einflussfaktoren gilt es zu beachten?“. Hierauf aufbauend tasten die Entscheider sich an die Entwicklung des sogenannten „Trend case“ hieran. Er beschreibt, was aus Unternehmenssicht das realistischste Zukunftsbild ist, das der weiteren Strategie- und Maßnahmenplanung des Unternehmens zugrunde gelegt werden sollte.
Der übliche Szenario-Trichter gilt nicht mehr
Normalerweise gilt bei der Szenario- und Strategieentwicklung die Faustregel: Je länger der gültige Zeitraum für die entwickelte Strategie ist, umso unwahrscheinlicher ist es im Zeitverlauf, dass die Rahmenbedingungen und Annahmen, die dem „Trend case“ zugrunde liegen, noch gelten. Die Wahrscheinlichkeit einer Abweichung vom Trendszenario steigt, so dass ein Positives Extremszenario (Best Case) oder Negatives Extremszenario (Worst Case) wahrscheinlicher wird. Der sogenannte Szenario-Trichter öffnet sich immer weiter.
Anders ist dies in der aktuellen Krisensituation. In ihr ist die Trichteröffnung zum Zeitpunkt der Szenarioerstellung nicht sehr klein, sondern groß – und die Annahmen, die der Strategieentwicklung zugrunde liegen, sind hochspekulativ. Letztlich leben zurzeit alle Entscheider in die Hoffnung, dass sich in den kommenden Monaten der Möglichkeitsraum verkleinert und sich die Fragen
- „Wie geht weiter?“ und
- „Auf welche Eckdaten können wir bei unseren strategischen Planungen bauen?“
zunehmend klären. Sie können aktuell sozusagen solange nur auf Sicht fahren, bis der Nebel sich verzogen oder zumindest gelichtet hat.
Die Strategien einem Realitätscheck unterziehen
Solange stehen auch die letztendlich entwickelte Strategie und der hierauf aufbauende Maßnahmenplan unter Vorbehalt. Entsprechend wichtig ist es in der aktuellen Krisen- und Marktumbruchsituation, dass die Top-Entscheider, nachdem sie sich auf eine Strategie verständigt haben, Controllingmaßnahmen vereinbaren, mit denen sie im Zeitverlauf überprüfen, ob ihre Annahmen zutreffend waren oder eine erneute Kurskorrektur nötig ist.
Über den Autor:
Dr. Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal. Er ist unter Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-provence, der St. Gallener Business-School und der technischen Universität Clausthal.