In Krisenzeiten, wenn niemand weiß, was das Morgen bringt, müssen Führungskräfte ihre Mitarbeiter noch agiler und situativer führen als in normalen Zeiten. Denn dann gilt es oft viele, teils weitreichende Entscheidungen in kurzer Zeit zu treffen und rasch umzusetzen.
Den idealen Führungsstil gibt es nicht. So lautete bereits 1968 die zentrale Botschaft von Ken Blanchard und Paul Hersey, den Entwicklern des Situational Leadership-Ansatzes – auch situatives Führen genannt. Sie postulierten: Führungskräfte müssen abhängig von der jeweiligen Situation und vom jeweiligen Gegenüber ein unterschiedliches, teils sogar konträr wirkendes Führungsverhalten zeigen. Mal müssen sie Mitarbeiter loben, mal tadeln. Mal sollten sie diese beim Erfüllen einer Aufgabe unterstützen, mal sich bewusst zurücknehmen. Dies gilt insbesondere in Krisenzeiten wie den aktuellen,
- in denen die Unternehmen oft sehr rasch auf Veränderungen in ihrem Umfeld reagieren müssen und
- nicht selten ihre bisherigen Strategie und Planungen hinfällig werden.
Soweit, so gut! Doch leider wird im betrieblichen Alltag oft der Entwicklungsgedanke vergessen, der mit dem situativen Führen verbunden ist. Eine Ursache hierfür war und ist: Manch Führungskraft fühlt sich von den vielen Aufgaben, die auf ihren Schultern lasten, überfordert. Deshalb fokussiert sich ihre Aufmerksamkeit auf die dringliche Tagesarbeit. Dies ist in Krisenzeiten zum Teil auch nötig, wenn zum Beispiel die Liquidität und Existenz des Unternehmens bedroht sind.
Kompetente Mitarbeiter entlasten Führungskräfte
Doch wehe, dies wird zum Dauerzustand. Dann beginnt gerade in Krisenzeiten, wenn die Mitarbeiter aufgrund der veränderten Zielsetzungen auch ein teils anderes Verhalten zeigen müssen, rasch ein Teufelskreislauf. Weil die Führungskräfte ihre Mitarbeiter nicht (mehr) fördern, können sie ihnen auch nicht mit der Zeit mehr und komplexere Aufgaben übertragen. Deshalb steigt sukzessiv die Belastung der Führungskräfte, weil immer mehr Aufgaben auf ihrem Schreibtisch liegen.
Um diese Herausforderung zu meistern, vor der ihre Führungskräfte in der von rascher Veränderung geprägten VUKA-Welt eigentlich permanent stehen, strebten viele Unternehmen schon vor der Krise danach, ihre Agilität zu erhöhen. Und von ihren Führungskräften fordern sie zunehmend, dass sie ihre Mitarbeiter „agil führen“. Dabei wird oft übersehen, dass ein solcher Führungsstil, der weitgehend auf die Selbstorganisation und Eigenverantwortung der Mitarbeiter setzt, ein gewissen Reifegrad der Mitarbeiter, aber auch Führungskräfte voraussetzt.
Die vier Stufen der Mitarbeiterentwicklung
Dem Situational Leadership-Ansatz zufolge lassen sich in der Entwicklung von Mitarbeitern, abhängig von deren Kompetenz und Engagement, vier Stufen unterscheiden. Wenn Mitarbeiter eine neue Aufgabe übernehmen oder zum Beispiel aufgrund der veränderten Marktsituation ein anderes Verhalten zeigen sollen, dann haben sie hiermit meist noch kaum Erfahrung. Ihre Kompetenz ist also gering. Trotzdem gehen sie die Aufgabe oft mit großem Eifer an (Entwicklungsstufe 1). Doch meist stellt sich bald eine Desillusionierung ein – zum Beispiel, weil die neue Aufgabe sich als schwieriger als gedacht erweist. Diese Ernüchterung verursacht nicht selten ein Nachlassen des Engagements (Entwicklungsstufe 2). Trotzdem arbeiten die Mitarbeiter weiter und entwickeln allmählich ein Gespür dafür, wie sie die Aufgabe meistern können. Sie sind aber noch unsicher und fragen sich: „Kann ich das wirklich alleine?“. So schwankend wie ihre Gefühle ist dann ihr Engagement (Entwicklungsstufe 3). Je häufiger die Mitarbeiter die Aufgabe jedoch mit Erfolg gelöst haben, umso größer wird ihre Sicherheit: Sie entwickeln sich zu „Profis“, die die Aufgabe routiniert lösen und auch nicht panisch reagieren, wenn bei deren Lösung mal ein anderes Vorgehen nötig ist (Entwicklungsstufe 4).
Bezogen auf die vier Entwicklungsstufen gilt: Sie beziehen sich stets nur auf eine Aufgabe, denn: Bei jedem Mitarbeiter sind die Kompetenz und das Engagement von Aufgabe zu Aufgabe verschieden. Deshalb ist auch ein unterschiedliches Führungsverhalten nötig.
Das Führungsverhalten der Entwicklung anpassen
Beim Führungsverhalten lassen sich dem Situational Leadership-Ansatz zufolge zwei Grundkategorien unterscheiden: ein dirigierendes und ein unterstützendes Verhalten.
- Ein dirigierendes Verhalten konzentriert sich darauf, wie eine Aufgabe zu erfüllen ist. Bei ihm sagt und zeigt die Führungskraft ihrem Mitarbeiter, wann und wie etwas getan werden muss. Zudem gibt sie ihm Feedback über das Ergebnis, um seine Kompetenz zu fördern.
- Ein unterstützendes Verhalten hingegen zielt darauf ab, die Eigeninitiative zu fördern. Beispiele für ein unterstützendes Verhalten sind Loben, Zuhören und Ermutigen; außerdem das Einbeziehen der Mitarbeiter in das Lösen eines Problems.
Aus den Grundkategorien lassen sich abhängig von deren Ausprägung und Kombination vier Führungsstile ableiten.
Führungsstil 1 – Anleiten: Er zeichnet sich durch ein stark dirigierendes und wenig unterstützendes Verhalten aus. Der Vorgesetzte gibt dem Mitarbeiter detaillierte Anweisungen, wie und mit welchen Zielen eine Aufgabe zu erfüllen ist, und überwacht eng das Vorgehen und die Leistung.
Führungsstil 2 – Coachen: Er ist durch ein stark dirigierendes und unterstützendes Verhalten charakterisiert. Der Vorgesetzte erläutert Entscheidungen, erfragt Vorschläge, lobt Vorgehensweisen und gibt genaue Anleitungen. Vorschläge zum Vorgehen des Mitarbeiters sind erwünscht, die Entscheidungen trifft aber weiterhin die Führungskraft.
Führungsstil 3 – Unterstützen: Er ist gekennzeichnet durch ein stark unterstützendes und wenig dirigierendes Verhalten. Er zielt primär auf ein Stärken des Engagements des Mitarbeiters ab. Führungskräfte, die diesen Stil praktizieren, trainieren, hören zu und ermutigen, eigenverantwortlich zu entscheiden und Lösungen zu entwerfen.
Führungsstil 4 – Delegieren: Er ist durch ein wenig unterstützendes und dirigierendes Verhalten geprägt. Der Vorgesetzte lässt den Mitarbeiter eigenständig handeln und sorgt für die Ressourcen. Er bestimmt jedoch weiterhin (im Idealfall, im Dialog mit dem Mitarbeiter) welche Ergebnisse gewünscht sind, und stellt sicher, dass Zielklarheit besteht. Er beobachtet und überwacht die Leistung.
Agile Führung setzt gewissen Reifegrad voraus
Wenn Führungskräfte die vier Führungsstile und die Entwicklungsstufe ihrer Mitarbeiter kennen, können sie abhängig von der Situation und vom Gegenüber entscheiden, welches Führungsverhalten bei einer Aufgabe angemessen ist.
Doch bei welchen Mitarbeitern ist nun das sogenannte agile Führen möglich, das weitgehend auf eine Selbstorganisation setzt? Ohne Vorbehalte eigentlich nur
- bei Mitarbeitern, die bereits eine hohe Routine beim Bewältigen ihrer Aufgaben haben und bei denen das Engagement stimmt, und
- bei Mitarbeitern, die zum Beispiel in Teamstrukturen eingebunden sind, die gewisse bei ihnen noch vorhandene fachliche und motivationale Defizite unterstützend ausgleichen
Um ihre Mitarbeiter effektiv zu führen, müssen Führungskräfte gerade in Krisenzeiten, in denen sich ihre Mitarbeiter von ihnen verstärkt Halt und Orientierung wünschen, die vier Führungsstile nicht nur kennen, sondern auch praktizieren (können). Sonst entwickelt sich die Kompetenz ihrer Mitarbeiter nicht und ihr Engagement sinkt.
Hierfür ein Beispiel: Angenommen ein junger ITler soll erstmals eigenständig ein Projekt planen und durchführen. Er befindet sich also bezogen auf diese Aufgabe auf der Entwicklungsstufe 1. Dann benötigt er von seinem Vorgesetzten (oder einem erfahrenen Kollegen) eine fachliche Unterstützung. Er muss zudem ermutigt werden: „Das schaffen Sie mit meiner Unterstützung, wenn …“. Anders ist dies, wenn der Mitarbeiter schon mehrere Projekte geplant und gemanagt hat. Gibt sein Vorgesetzter ihm dann noch jeden Arbeitsschritt vor, lähmt dies die fachliche Weiterentwicklung des Mitarbeiters und seine Motivation sinkt. Denn er denkt zu Recht: „Mein Chef betrachtet mich als blutigen Anfänger. Er würdigt meine Können nicht.“
Ähnlich demotivierend oder wenig kompetenzfördernd kann es jedoch sein, wenn eine Führungskraft ihrem Mitarbeiter zu wenig Unterstützung bietet. Erneut ein Beispiel: Angenommen ein ITler hat schon mehrere Projekte erfolgreich gemanagt. Er befindet sich also auf Entwicklungsstufe 3. Bisher waren die Projekte jedoch nur Innovations-Projekte – also Projekte, die zum Beispiel auf die Weiterentwicklung der technischen Infrastruktur eines Bereichs abzielten Nun soll er aber erstmals ein Change-Projekt planen und managen, das auf eine bereichsübergreifende, tiefgreifende Veränderung auch auf der Kulturebene abzielt. Das verunsichert ihn, was er auch artikuliert. Wenn dann sein Chef zu ihm nur schulterklopfend sagt „Das schaffen Sie schon“, fühlt sich der Mitarbeiter im Stich gelassen. Das heißt: Mit hoher Wahrscheinlichkeit sinkt sein Engagement.
In der Krise ist eine hohe Verhaltensflexibilität gefragt
Daraus folgt: Führungskräfte müssen ihr Führungsverhalten im Betriebsalltag immer wieder neu bzw. flexibel und agil der Entwicklung des jeweiligen Mitarbeiters und der jeweiligen Situation anpassen. Entsprechend hoch muss ihre Sensibilität für die Ist-Situation und Verhaltensflexibilität gerade in Krisensituation sein. In ihnen sollten sie ihr Führungsverhalten alleine oder mit Kollegen oder mit einem Coach regelmäßig reflektieren und neu justieren, um auf die jeweils aktuelle Situation adäquat zu reagieren.
Über den Autor:
Hans-Peter Machwürth ist Geschäftsführer der international agierenden Unternehmensberatung Machwürth Team International (MTI Consultancy), Visselhövede (D), für die weltweit circa 450 Berater, Trainer, Coaches sowie Projektmanager arbeite.