Achtsamkeit: Mit Oxytocin zu neuer Führungsqualität

Vertrauen, Wertschätzung und Sinnvermittlung brauchen Oxytocin, um wirksam zu werden. Kein Grund, sofort in die Apotheke zu eilen, denn Oxytocin existiert als Botenstoff im Gehirn jedes Einzelnen. Ein Stoff, von dem zukunftsfähige Führung lebt. Voraussetzung: Achtsamkeit und Selbstführungskompetenz innovativer Führungskräfte.

Noch vor 20 Jahren bedeutete Selbstführung in erster Linie Selbstorganisation und Zeitmanagement. Das mag heute gerade noch ausreichen, um den täglich anfallenden Stress ein wenig zu reduzieren, reicht aber keinesfalls, den grundsätzlich veränderten Herausforderungen und Bedingungen einer VUKA-Welt (VUKA= Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität) zu entsprechen. Hohe Veränderungsgeschwindigkeit, wachsende Unvorhersehbarkeit sowie eine stark zunehmende Komplexität bestimmen den Alltag von Führungskräften und Mitarbeitern gleichermaßen. Die Folgen:  Starker Arbeitsdruck, andauernde Unsicherheit, oftmals verbunden mit dem Verlust an Überblick und Kreativität, Entscheidungsschwierigkeiten bis hin zu persönlichen Ängsten. Reine Fach- und Führungskompetenzen reichen nicht mehr aus, um damit umzugehen. Es bedarf vielmehr besonderer persönlicher Kompetenz, einer übergeordneten Metakompetenz: Achtsame Selbstführung, das heißt das Steuern der eigenen Gedanken, Emotionen und Haltungen.

Das Gedanken-Steuer in die Hand nehmen

Das neue Motto innovativer Führungskräfte heißt: Innere Stabilität! Bei sich selbst beginnen! Der Weg nach innen wiederum führt über die Achtsamkeit. Achtsamkeit hilft als mentale Fähigkeit, eigene Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensautomatismen besser zu erkennen und entsprechend zu lenken. Wer nicht länger der Getriebene seiner eigenen Gedanken ist, seine innere Unruhe und Ängste beherrschen und lenken lernt, hält das Steuer selbst in disruptiven Zeiten fest und vor allem selbst in der Hand. Das ist keine Frage der Fokussierung oder Konzentration, sondern die Fähigkeit der Selbstwahrnehmung: Gedanken besser zu lenken, aber auch Emotionen. Mit Achtsamkeit trainieren wir also die Fähigkeit zur Distanzierung, um sich selbst, seine Gedanken und Gefühle „von außen“ zu beobachten.

Digitalisierung fördert Soft Skills

Neurowissenschaftler beschäftigen sich seit langer Zeit intensiv mit den Themen Achtsamkeit und Meditation. Die Arbeitsweise des Gehirns unter Stress lässt sich heute im MRT ebenso sichtbar machen wie bei Emotionen oder Entscheidungen. Oder, eine der aufregendsten Neuentdeckungen der vergangenen Jahre: die Neuroplastizität – die gezielte Formbarkeit des Gehirns. Achtsamkeitsübungen helfen, das Gehirn wie einen Muskel zu trainieren und so Verknüpfungen und Strukturen im Gehirn zu beeinflussen. Soft Skills werden in diesem Zusammenhang zu zentralen Führungsmerkmalen:  Empathie, Intuition, Kreativität, Resilienz, Weisheit, Ethik und Vertrauen. Hard Skills hingegen – etwa Projektmanagement, Sprachen, Präsentationstechniken, Wissensmanagement oder Finanzanalysen – spielen in der Arbeitswelt der Zukunft wohl schon bald eine eher untergeordnete Rolle. Sie werden digitalisiert, durch künstliche Intelligenz und Robotik an Bedeutung verlieren. Daraus ergeben sich vier grundlegende Kompetenzbereiche, welche Führung in Zukunft idealerweise ausmachen: Selbstführungskompetenz, Beziehungskompetenz und schöpferische Kompetenz. Die Metakompetenz Achtsamkeit hilft als vierte im Bund, sich die anderen Kompetenzen zu erschließen und korrekt, das heißt wirksam, anzuwenden.

Achtsames Zuhören lernen

Selbstführungs- und Beziehungskompetenz sind nötig, um Wertschätzung zu geben und Vertrauen aufbauen zu können. Menschliche Beziehungen sind auch heute bestimmt durch das Streben nach Zuwendung, Wertschätzung und Kooperation. Der Mensch lechzt geradezu nach sozialer Resonanz und Kooperation. Genau deshalb bildet Wertschätzung eine elementare Grundlage für die Wirksamkeit von Führung und damit in direkter Konsequenz für den Erfolg eines Unternehmens. Doch: Was macht Wertschätzung aus? Wertschätzung braucht die Fähigkeit, zuhören zu können. Banal, auf den ersten Blick. Und doch alles andere als selbstverständlich in einer Welt, in der viele Führungskräfte nur darauf warten, endlich selbst das Wort ergreifen zu können oder nach gefühlten anderthalb Sekunden ihren Mitarbeitern bereits ins Wort fallen. Genau hier kann Achtsamkeit wahre Wunder wirken. „Nicht sofort urteilen“ und „Mit den Augen des Anfängers sehen lernen“ helfen als grundlegende Prinzipien, achtsam zuzuhören. Führungskräfte kommen dadurch überhaupt erst in die Lage sich selbst zu beobachten, zu reflektieren und ihr eigenes Verhalten zu bewerten – in Gesprächen, in Konferenzen, in Meetings. Wenn es Führungskräfte schaffen, diese Selbstreflexion zu üben und auszuüben, kann Wertschätzung gedeihen und Vertrauen entstehen. Beides sind zentrale Elemente eines kooperativen Führungsstils.

Loslassen und die Kunst des Improvisierens

Innovationsfähigkeit – sie schwebt wie ein Damoklesschwert über vielen Unternehmen. Doch Innovation fällt nicht vom Himmel. Es braucht Führungskräfte mit schöpferischen Kompetenzen, die einerseits in der Lage sind, ihren Mitarbeitern kreative Freiräume zu schaffen. Und andererseits ihre eigene Intuition hören und verstehen: Das Bauchgefühl, das es nicht nur wahrzunehmen gilt. Nein, es bedarf zusätzlich der richtigen Reflexion. Das gelingt am besten in der Umgebung, die es in einer sich immer schneller drehenden Welt vermeintlich nicht mehr gibt: Stille. Sich bewusst Stille zu schaffen, sich – wenn auch nur kurz – aus dem Lärm des Alltags zurückzuziehen, durchzuatmen, nicht zu denken. Stattdessen: nur zu spüren. Diese Stille will geübt sein, für viele von uns mit Sicherheit ein langwieriger Prozess. Wir schaffen auf diese Weise aber die Grundlage für ein weiteres Gebot der VUKA-Welt: das Improvisieren. Unvorhersehbarkeit und potenzielle Krisen bedürfen immer mehr der Improvisationskunst. Vorsicht: Improvisation wird allzu gerne mit fehlender Vorbereitung verwechselt – das will hier nicht gemeint sein. Vielmehr hilft die erlernbare Kunst des Improvisierens dabei, aus dem Stegreif zu agieren, das Richtige zu erspüren und zu tun. Die wichtigste Voraussetzung dafür: Loslassen. Loslassen von den „Ich kann das nicht“ dieser Welt. Loslassen vom „Ja, aber …“. Loslassen vom „So haben wir das immer gemacht“. Auf diese Weise lösen wir nicht nur satte Denkblockaden, sondern schaffen gleichzeitig Freiraum für kreative Lösungen.

Kultur gestalten heißt Zukunft formen

Führungskräfte und Mitarbeiter müssen beginnen, Achtsamkeitsprinzipien systematisch auf den Alltag im Unternehmen anzuwenden, um Selbstverständlichkeiten zu durchbrechen und Denkweisen für ein flexibles Zugehen auf Veränderungen zu öffnen.  Auf diese Weise kann es gelingen gewünschte Denk- und Verhaltensweisen als Selbstverständlichkeit im Unternehmen zu verankern. Und im Grunde beschreibt Unternehmenskultur ja nichts anderes als die Summe der Selbstverständlichkeiten in einem Unternehmen. Es gilt aber unbedingt zu vermeiden, diese Selbstverständlichkeiten mit Wertekatalogen, Unternehmensgrundsätzen oder Kulturbeauftragten festigen, verändern oder austauschen zu wollen. Wandel bedarf einer fundierten Ist-Kultur-Analyse. Wobei das Ganze natürlich mit der Geschäftsleitung beginnen sollte. Mit Achtsamkeit – dann wird auch das Mindset aller Beteiligten offen, flexibel und locker. Offen für Reflexion, bereit für Veränderungen. Sinn und Zweck des Unternehmens, seiner Motive und Wertelandschaft werden herausgeschält, daraus die Mission, Werte und der Spirit abgeleitet. Mit Kopf, Herz und Geist entsteht so eine neue, achtsame Führungskultur. Und eine zukunftsfähige Führungsqualität.

Über den Autor:

Dr. Friedhelm Boschert, Gründer der „Mindful Solutions“ und Partner der Initiative Wertvolle Unternehmenskultur

Über die Initiative Wertvolle Unternehmenskultur (I.W.U.):

Die I.W.U. hat sich die Stärkung von Unternehmenskultur in der Gesellschaft zur Aufgabe gemacht. Die Initiatoren schöpfen aus langjähriger beruflicher Praxis und wissenschaftlicher Expertise rund um das Thema Unternehmenskultur. Sie fordern und fördern den offenen und ehrlichen Austausch über Werte und Kultur als immaterielle Basis materiellen Erfolges. Die Initiative und die damit verbundene Analytik ersetzt Spekulationen durch greifbare Fakten. Und macht den Blick frei für das Wesentliche: „Wirtschaft schafft Kultur.“

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