Gezielt zu entschleunigen und eine höhere Achtsamkeit auch für sich selbst zu entwickeln – das können und müssen Führungskräfte lernen, um in der von rascher Veränderung geprägten VUKA-Welt nicht ihre innere Balance und Leistungsfähigkeit zu verlieren.
In der von rascher Veränderung geprägten modernen Welt, auch VUKA-Welt genannt, verlieren viele Menschen den Überblick: Sie fühlen sich sozusagen „erdrückt“ von den vielen Ereignissen zugleich.
Albert Einstein war überzeugt: Man kann Probleme nicht auf der gleichen Ebene lösen, wie sie entstanden sind. Verbindet man diesen Gedanken mit der steigenden Komplexität in unserem beruflichen und privaten Umfeld, dann bedeutet dies: Wir können mit einem noch höheren Tempo nicht alle Herausforderungen, vor denen wir stehen, erfassen und lösen. Wir müssen uns vielmehr auf eine andere Ebene begeben. Doch auf welche? Auf die Ebene der Achtsamkeit durch gezielte Entschleunigung.
Achtsamkeit und gezielte Entschleunigung werden seit über tausend Jahren im Buddhismus und anderen Religionen gelehrt, und sie finden langsam wieder Platz in unserer Gesellschaft, denn immer mehr wissenschaftliche Studien zeigen: Hier wirkt etwas, was man schon früher wusste, jedoch jetzt endlich auch valide belegen kann.
Gezielte Entschleunigung im Führungsalltag gefragt
Von Führungskräften wird erwartet, dass sie den Überblick haben und rasch entscheiden. Beides ist in der von rascher Veränderung, sinkender Planbarkeit und steigender Komplexität geprägten VUKA-Welt nur noch bedingt möglich. Also brauchen die Führungskräfte teils neue Fähigkeiten. Hierzu zählt die Fähigkeit, organisationale und kommunikative Muster zu erkennen – also ein systemisches Wahrnehmen der Wechselwirkungen zwischen Menschen und Organisationen, die entweder konstruktiv, neutral oder destruktiv sein können.
Durch eine achtsame Entschleunigung verknüpft mit einem Blick aufs Ganze können Entscheidungen zu einer anderen Zeit getroffen werden – beispielsweise bevor sich Destruktives bereits verbreitet hat. Mit diesem achtsamen Blick können unternehmerische Veränderungen effektiver begleitet und Korrekturen schneller eingeleitet werden.
Mindful Leadership heißt, sich selbst führen
Mindful Leadership beginnt bei sich selbst, genau wie der Spruch: „Wenn du die Welt verändern willst, fange in deinem Land an. Wenn du dein Land verändern willst, fange in deiner Stadt an. Wenn du deine Stadt verändern willst, fange bei deiner Familie an, und wenn du bei deiner Familie etwas verändern willst, fange bei dir selbst an.“
Was fängt jedoch „bei mir selbst“ an? Eine Führungskraft trägt Ergebnisverantwortung, und sie muss die aktuelle Situation und die Zukunft managen. Das gelingt Führungskräften nur mit motivierten und engagierten Mitarbeitern.
Den beiden Motivationsforschern Richard M. Ryan und Edward L. Deci zufolge, die das Modell des Motivationskontinuums entwickelt haben, wird die intrinsische Motivation, also Eigen- und Selbstmotivation der Mitarbeiter stark vom Verhalten ihrer Führungskraft beeinflusst. Diese hat eine Vorbildfunktion.
Sie kennen gewiss Führungskräfte, die in sich unrund, hektisch und unklar sind und deshalb nur eine geringe motivierende Wirkung haben – selbst wenn sie ihre Mitarbeiter noch so oft loben. Andere Führungskräfte hingegen, die in sich ruhen und achtsam mit sich umgehen – beispielsweise aufgrund eines aktiven Zeitmanagements, einer Grenzziehung bei Überlast und einem Blick fürs Ganze – wirken stark motivierend, denn: Durch ihre Präsenz im Kontakt und ihre achtsame Gestaltung der Beziehungen entsteht bei ihren Mitarbeitern ein Gefühl der Wertschätzung.
Die eigene, motivierende Wirkung steigern
Wie kann man nun als Führungskraft seine entsprechende Wirkung steigern? Primär indem man die eigene Selbstreflexionsfähigkeit erhöht – also ein Gespür dafür entwickelt,
- was mache ich gerade wie,
- mit welchem Gefühl und Muster folge ich meinen Gedanken und
- wie treffe ich Entscheidungen.
Diese Fähigkeit des kurzen Innehaltens kann mit Achtsamkeitsübungen geschult werden. Dieses sich bewusst werden, „was geschieht gerade und welchem Muster folge ich“ ermöglicht es dann, Entscheidungen zu treffen, die stimmiger mit der eigenen Persönlichkeit, den eigenen Werten und Überzeugungen sind. So entsteht eine Kongruenz zwischen Verhalten, Werten und Überzeugungen, was die eigene intrinsische Motivation erhöht (Deci & Ryan). Und diese Stimmigkeit spüren auch die Mitarbeiter, was wiederum deren Motivation erhöht.
Durch die regelmäßige Reflexion des eigenen Handelns sowie der Beurteilungs- und Entscheidungsprozesse in der jeweils aktuellen Situation befinden sich die Führungskräfte sozusagen in einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess, der zu einem nachhaltigen Lernen und Optimieren ihres Führungshandelns führt. Und Fördern und unterstützen die Führungskräfte entsprechende Selbstreflexions- und -führungsprozesse auch bei ihren Mitarbeitern, dann ist die Grundlage für eine Lernende Organisation gelegt.
Achtsam führen heißt auch sich bewusst entscheiden
Der Arbeitsalltag einer Führungskraft besteht aus vielen kleinen und größeren Entscheidungen. Durch die zunehmende Dynamik in den Unternehmen befinden sich Führungskräfte immer häufiger in Situationen, in denen sie schnell eine Einschätzung vornehmen und Entscheidung treffen müssen. Und genau hierbei ist Achtsamkeit hilfreich. Sie ermöglicht es, in dem Einschätzungs- und Entscheidungsprozess seine eigenen Gedanken, Bewertungen und Emotionen wahrzunehmen.
Der kurze Blick nach Innen und die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit so zu steuern, dass man sich der in der eigenen Person unbewusst ablaufenden Prozesse und der sie begleitenden Emotionen (wie Sympathie und Antipathie) bewusst wird, schafft den Raum für eine offene, unbefangene Betrachtung der Situation. Das gewohnheitsbedingte Reiz-Reaktionsmuster bei Führungsentscheidungen wird durch Achtsamkeit durchbrochen und eine neue, der Situation angemessene Entscheidung kann gefällt werden. So entsteht der Raum, auch mal andere, kreative Wege zu gehen.
Wie wir diese Fähigkeit entwickeln
Ein Spitzen-Fußballer trainiert regelmäßig seine Schusstechnik; ebenso gilt es beim Mindful Leadership, die eigene Achtsamkeit-Fähigkeit zu trainieren und auszubauen. Um im Bild zu bleiben, das Fußballtraining entspricht dem regelmäßigen Praktizieren der Achtsamkeitsübungen und das Bundesliga- oder Champions League-Spiel dem Anwenden der erlernten Grundtechniken im Führungsalltag.
Mahathera Henepola Gunaratana, der Mitbegründer der Bhavana Society und Abt ihres Meditationszentrums im Shenandoah-Tal in West Virginia, USA, schreibt in seinem Buch „Die Praxis der Achtsamkeit“: Selbst der erfahrenste Meditierende praktiziert weiterhin regelmäßig seine Achtsamkeitsübungen, weil dies die grundlegenden geistigen Fähigkeiten einstimmt und schärft, die es für einen achtsamen Alltag braucht. Deshalb sollte ein Mindful Leadership Programm den Teilnehmern die Möglichkeit bieten, Achtsamkeit über einen längeren Zeitraum zu praktizieren, damit sie erfahren, wie positiv sich dies auf ihren Lebens-, Führungs- und Arbeitsalltag auswirkt.
Über die Autoren:
Uwe Reusche ist einer der beiden Geschäftsführer des ifsm Institut für Sales & Managementberatung, Höhr-Grenzhausen (bei Koblenz).
Silke Engelke arbeitet u. a als Achtsamkeitstrainerin und -beraterin für ifsm. Die Diplom Sportlehrerin war zuvor u.a. Personalentwicklerin bei einer Bank.