Die Herausforderung des Wissens- und Informationszeitalters besteht darin, möglichst viele Disziplinen immer wieder neu zu kombinieren, um den höchstmöglichen Nutzen aus den verschiedenen Wissensgebieten und ihren Synergien ziehen zu können. Das erfordert die Bereitschaft, sich immer wieder zu öffnen und durch neue Impulse von außen inspirieren zu lassen – ob als einzelner Experte oder als Gruppe.
Raus aus dem Elfenbeinturm
In unserer globalen und vernetzten Welt haben wir ununterbrochen mit unzähligen Informationen und einer Menge an Wissen zu tun, die vom Einzelnen oft weder zu überschauen noch zu bewältigen sind. Genauso schnell wie neues Wissen entsteht, veraltet das vorhandene. Je spezialisierter es ist und je kleiner der Fachbereich, umso schneller ist es überholt. Die Halbwertszeit des Wissens in technologiebezogenen Bereichen liegt gerade einmal bei zwei bis drei Jahren, bei EDV-Fachwissen spricht man sogar von nur einem Jahr. Wer in seinem Elfenbeinturm lebt und sich nicht austauscht, läuft Gefahr, wichtige Trends zu übersehen.
Expertenwissen vs. Innovation
Manchen Experten fällt es nicht so leicht, sich einzugestehen, dass sie nicht alle Informationen haben, um gute Lösungen zu finden. Gerade dieser Schritt wird oft als Zeitverschwendung betrachtet. Möglicherweise würde man Informationen erhalten, die das eigene Weltbild auf den Kopf stellen. Im schlimmsten Fall müsste man den Innovationsprozess in eine ganz andere Richtung lenken als ursprünglich geplant. Um das zu vermeiden, stützt man sich lieber auf Annahmen. Dabei würde es sich lohnen, die eigene Realität regelmäßig infrage zu stellen. Indem wir uns neugierig öffnen, können wir unseren Horizont deutlich erweitern. Wichtig in diesem Zusammenhang: Patente beruhen auf Expertenwissen, Innovationen auf Kooperation. Während Erfindungen meist von Einzelpersonen gemacht werden, ist Innovation die breite Durchsetzung einer Neuerung am Markt, die nur durch das Zusammenspiel verschiedener Experten möglich wird. Hierarchische Strukturen, ergebnisorientierte Karrierepfade, konkurrierende Zielvereinbarungen und der Kampf um Budgets oder Leistungszulagen laden dazu ein, sich abzugrenzen und sich auf sich selbst zu konzentrieren. In einer vernetzten Welt ist es nicht nur sinnlos, die Dinge getrennt voneinander zu betrachten, es führt auch zu groben Fehlern und Misserfolgen. Die neuen Werte heißen deshalb Wissen teilen, Vielfalt, sich gegenseitig bereichern und befruchten, doch vor allem Bescheidenheit und Wertschätzung: die Bescheidenheit, zu erkennen, dass Expertenwissen alleine wenig nutzt, und die Wertschätzung, dass selbst ungewöhnliche Kooperationspartner etwas dazu beitragen können, selbst besser zu werden und die eigenen Ziele zu erreichen.
Komplex vs. kompliziert
In vielen Bereichen gehört das Lösen komplexer Aufgaben zum alltäglichen Job. Komplex ist mehr als kompliziert. Komplizierte Aufgaben sind mit mehr Expertenwissen zu lösen. Komplexe Aufgaben zeichnen sich durch unterschiedliche Einflussgrößen, hohe Dynamik und undurchschaubare Zusammenhänge aus. Sie zu lösen stellt hohe Anforderungen hinsichtlich Informationen und Bewertungen, denen eine Einzelperson aufgrund ihres beschränkten Horizonts nicht gerecht werden kann. Fortschrittliche Unternehmen reagieren darauf mit Projektarbeit, Matrixstrukturen und mehr Selbstorganisation, damit Menschen unabhängig von Abteilung und Hierarchie zusammenarbeiten und so gemeinsam Ziele erreichen. Hinzu kommt ein neuer Blick auf Kunden, die zu Partnern werden und mitgestalten sollen sowie ein internationales Umfeld, in dem wir laufend in Kontakt mit anderen Kulturen sind.
Den Blick weiten
Das alles hilft jedoch nur wenig, wenn wir nach wie vor in alten Strukturen und Denkweisen gefangen sind. Solange wir uns nicht bewusst damit auseinandersetzen, sind wir nicht sehr gut darin, mehrere Perspektiven gleichzeitig im Blick zu haben. Für unser Gehirn ist es einfach effizienter, in Schwarz und Weiß zu denken. Entweder sich durchsetzen und die Interessen der anderen hinten anstellen oder – wenn das nicht geht – sich unterwerfen, Dienst nach Vorschrift, ohne noch etwas zu hinterfragen oder aus eigener Initiative beizutragen. Ein automatischer Prozess, der scheinbar Zeit und Energie spart, uns aber daran hindert, unseren Kooperationsraum der sowohl-als-auch-Lösungen zu nutzen. Um den Blick zu weiten und beide Positionen gleichzeitig im Auge zu behalten, müssen wir weich und entspannt bleiben. Das ist auch ganz leicht auszuprobieren. Nehmen wir uns einen Punkt in unserem Blickfeld und richten wir unseren Blick darauf. Sofort fokussiert sich unser Blick und wird starr. Versuchen wir zwei weit auseinanderliegende Punkte gleichzeitig im Blick zu halten, ohne den Kopf oder die Augen zu bewegen, gelingt das nur, wenn wir uns entspannen und den Blick weicher werden lassen. Das ist übrigens eine sehr schnelle und wirksame Entspannungsübung für alle, die viel am Bildschirm arbeiten oder am Handy zugange sind. Der ko-zentrierte Blick weitet das Sichtfeld im Gegensatz zum konzentrierten Blick, der das Sichtfeld verengt. Dass der ko- oder multi-zentrierte Blick gerade auch in der Gruppe eine Herausforderung sein kann, zeigt das Phänomen Groupthink.
Groupthink: Exzellente vs. katastrophale Entscheidungen
Die meisten Menschen haben das natürliche Bedürfnis, zu einer sozialen Gemeinschaft dazuzugehören. Sobald wir das geschafft haben und uns mit der Gruppe identifizieren, strengen wir uns an, die Zugehörigkeit zu erhalten. Gleichzeitig sind wir weniger offen für anderen Gruppen, tendieren dazu, uns stärker abzugrenzen. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass wir so eng zusammenwachsen, dass wir für viele Impulse, die die Umwelt bietet, nicht mehr offen sind. Uns geht damit wertvolle Inspiration verloren. Das Phänomen, dass wir in einem Meeting etwas sagen wollen, uns dann aber dagegen entscheiden, weil wir das, was die Gruppe geleistet hat und wofür sie steht, nicht infrage stellen wollen, wurde 1972 von dem Psychologen Irving Janis als „Groupthink“ bezeichnet. Er untersuchte, warum Teams manchmal exzellente und gleich danach katastrophale Entscheidungen treffen. Der Grund für die schlechten Entscheidungen sei der Mangel an Konflikten oder abweichenden Sichtweisen. Wenn niemand sie zur Sprache bringe, würden sie nicht diskutiert, wodurch die Alternativen auch nicht vollständig analysiert werden könnten. Das führe dazu, dass Entscheidungen getroffen würden ohne ausreichende Informationen. Ein trauriges Beispiel für Groupthink in Aktion ist das Challenger Space-Shuttle Unglück im Januar 1986. Den Ingenieuren war bereits Monate vor dem Start bekannt, dass es fehlerhafte Teile gab. Da man auf keinen Fall negative Presse oder unnötigen Aufschub verursachen wollte, trieben alle den Start trotz der Risiken voran. 73 Sekunden nach dem Start zerbrach die Raumfähre, dabei starben alle sieben Astronauten. Zum Glück kostet der Groupthink nicht immer Menschenleben. Allzu oft verhindert er jedoch einen guten Entscheidungs- und Lösungsprozess und vor allem Innovation und Wachstum.
Starre Gruppengrenzen durchlässig gestalten
Dabei kann es eigentlich nie genug Intelligenz und Erfahrung geben, entsprechend brauchen wir gegenseitige Inspiration. Und damit wir diese überspringen können, müssen wir unsere starren Ich- oder Gruppengrenzen durchlässig gestalten – eher im Sinne einer Membran, als einer harten Schale. Das widerspricht aber dem bisherigen WIR-Verständnis. Teamgeist bedeutet für uns, in erster Linie fest zusammenzuhalten und wird vor allem dadurch gestärkt, indem sich das Team von anderen abgrenzt. Abweichler stören das Teamgefüge und Neuhinzukommende haben sich gefälligst nahtlos einzufügen. Mit der Bereitschaft, dieses Denken hinter sich zu lassen und sich der Vielfalt von Ideen und Sichtweisen zu öffnen, steht und fällt der Erfolg von echter Innovation. Das neue WIR-Verständnis muss deshalb deutlich weiter gehen: über Ego-, Team-, Abteilungs- und Unternehmensgrenzen hinaus.
Herausragende Innovationen durch Design Thinking
Design Thinking ist nicht nur eine kreative Methode, sondern eine Denkhaltung, die sowohl ermöglicht, Probleme kreativ zu lösen als auch zukunfts- und kundenorientierte Konzepte zu entwickeln. Sie wurde von David Kelley, Terry Winograd und Larry Leifer von der Standford University entwickelt und wird mittlerweile nicht nur in großen Unternehmen genutzt, um neue Lösungen und Produkte zu entwickeln, sondern beschert auch dem Mittelstand, der öffentlichen Verwaltung, Dienstleistungsunternehmen und dem Handwerk mehr Innovation und Kundenorientierung. Der Erfolg ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass mehr Menschen und Perspektiven einbezogen werden als in einem üblichen Problemlösungs- oder Innovationsprozess. Wie wir bereits beschrieben haben, finden Entwicklung und Innovation häufig im Elfenbeinturm durch sogenannte Expertenteams statt. Sie alle laufen Gefahr, nach Lösungen für Probleme zu suchen, die sie nicht komplett durchdrungen haben. Häufig werden die Überlegungen von technologischer Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit getrieben.
Unterschiedliche Aspekte vereinen
Üblicherweise beginnt die Entwicklung eines neuen Produktes in der Entwicklungsabteilung. Wenn das Design weit gediehen ist, bekommt es vielleicht erstmals die Produktion zu sehen. Das Marketing denkt sich Vermarktungsstrategien aus und der Vertrieb schaut dann, wie er das Produkt an die Kunden bringen kann. Nicht selten schimpft die Produktion über den Unsinn, der da entwickelt wurde und der Vertrieb muss sich damit herumschlagen, dass das Produkt die Kundenbedürfnisse nicht voll erfüllt. Irgendwo dazwischen, kommt dann noch der Auftrag, die Herstellungskosten zu halbieren. Der Design Thinking-Prozess geht jedoch davon aus, dass Innovation sich nur dann durchsetzt, wenn sie in der Schnittmenge aus den drei gleichberechtigten Faktoren Mensch, Technologie und Wirtschaft entsteht. Deshalb werden all diese Aspekte von Anfang an in diesem Prozess zusammengebracht.
Mehr Durchlässigkeit durch das T-Profil
Ein Aspekt, der Design Thinking so erfolgreich macht, ist der Grundgedanke, dass gerade interdisziplinäre Teams echte, herausragende Innovationen erschaffen können. Dazu werden alle Disziplinen sofort in den Prozess aktiv mit einbezogen. Der zweite Erfolgsfaktor ist die radikale Kundenorientierung. Es wird nicht nur fantasiert, was der Kunde möchte oder aus Marktforschungsdaten abgeleitet – das Design Thinking Team spricht sehr früh mit potentiellen Interessenten. Das heißt, nicht nur der Vertrieb ist im Kontakt mit dem Kunden oder der technische Projektleiter stellt seine fertige Lösung vor. Kunden und Interessenten werden von allen kontaktet – lange bevor auch nur eine einzige Idee entwickelt wird. In einem solchen Design-Thinking Team mitzuarbeiten, erfordert die oben beschriebene Durchlässigkeit in besonderem Maße. Besonders eignen sich dafür Menschen mit einem sogenannten T-Profil. Der vertikale Balken repräsentiert das Expertenwissen und die Spezialisierung in einer bestimmten Domäne (z. B. Medizintechnik). Der horizontale Balken steht für Offenheit, Interesse und Neugier gegenüber anderen Disziplinen, der Umwelt und anderen Menschen, kurz gesagt für Kooperationsfähigkeit. Es ist die Fähigkeit, die Hände auszustrecken und Kontakt mit anderen Wissensgebieten und Experten herzustellen.
Wissen ist in vielen Bereichen mehr als genug vorhanden. Aber erst unsere Fähigkeit und Bereitschaft, zu kooperieren, erlaubt es, dieses Wissen zu vernetzen und uns gegenseitig zu inspirieren. Expertenwissen wird so veredelt und nutzbar gemacht. Erst dadurch wird es zu lebendigem Wissen, das Innovation und gemeinsames Wachstum ermöglicht.
Über die Autorin:
Ulrike Stahl ist Rednerin, Autorin und Expertin für das neue WIR im Business. Wie geht erfolgreiche Zusammenarbeit in einem agilen und globalen Umfeld? Wie entwickeln wir einen WIR-Mindset für uns selbst, in unseren Unternehmen und unter unseren Mitarbeitern? Darüber schreibt und redet sie mit internationaler Erfahrung und Begeisterung. Sie ist Autorin des Buches „So geht WIRTSCHAFT! Kooperativ. Kollaborativ. Kokreativ.“ Als Design Thinking Coach und Coach für Top Teams ist sie am Puls der Zeit und genau das macht ihre Vorträge so packend und lebensnah.