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Bildungs- und Berufsberatung gewinnt an Bedeutung

Die Anforderungen der heutigen Zeit an die Menschen, ihren Alltag zu bewältigen, Beziehungen fruchtbar zu gestalten und ihre Probleme zu meistern, wachsen. Das Feld der Beratung wird immer bedeutsamer. Eine Ursache dafür könnte sein, dass die Alltags- Berufs- und Familiensituationen immer komplexer, unüberschaubarer, schwerer planbar und komplizierter wahrgenommen werden. Gelernte Handlungsmuster halten der Wirklichkeit selten mehr stand, die Zuverlässigkeit und Gültigkeit traditioneller Handlungsmuster gerät ins Wanken, sie werden in Frage gestellt und bieten oftmals keine zufriedenstellenden Lösungsvorschläge mehr an.

Dieser Bruch gelernter Muster macht Personen unsicher, Handlungsanleitungen für aktuelle Fragestellungen die in verschiedenen Beratungssegmenten erarbeitet werden, sind gefragter denn je. Auch im Bereich der Bildungs- und Berufsberatung ist dieser Trend spürbar. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Arbeitswelt radikal verändert. Aufgrund einer guten Ausbildung berufliche jahrzehntelange Zugehörigkeit zu einem Betrieb zu erwerben und danach pensioniert zu werden, kennzeichnet heute nicht mehr den üblichen Verlauf einer Berufsbiographie. Die Arbeitswelt ist schneller und flexibler geworden, sie bietet gut ausgebildeten jungen Leuten ungleich größere Chancen, beruflich erfolgreich zu sein-sie produziert jedoch auch eine nicht unerhebliche Zahl an Personen, die sich intensiv darum bemühen müssen, mit der Arbeitswelt Schritt zu halten.

Der Begriff Kompetenz

Selten hat ein Begriff im Bildungsdiskurs einen derartigen Bedeutungsaufschwung genommen wie der Kompetenzbegriff in den letzten Jahren. Kaum eine bildungspolitische Diskussion, kaum ein Strategiepapier, das ohne ihn auskommt. Allerdings wird Kompetenz in verschiedenen Bedeutungen, meist unscharf begrifflich gefasst, verwendet. Aufgrund der Heterogenität der möglichen und heute auch parallel verschieden verwendeten Bedeutungen von Kompetenz ist es jedoch notwendig, sich auf eine Definition festzulegen.

Folgt man der Begriffsgeschichte, lässt sich feststellen, dass sich der Begriff Kompetenz auf das lateinische Wort competere mit den Bedeutungen „zusammentreffen, zukommen, zustehen“ zurückverfolgen lässt. Bereits die römischen Rechtsgelehrten gebrauchten ausschließlich das Adjektiv, also competens (zuständig, befugt, rechtmäßig, ordentlich) und bezogen dieses ausschließlich auf eine Person mit der Bedeutung „persönlich geeignet, angemessen“, was unserem heutigen Verständnis von „kompetent“ erstaunlich nahe ist.

Noam Chomsky, Sprachwissenschafter und Sprachpsychologe des MIT, gilt als „Erfinder“ des modernen Kompetenzbegriffs. Er nähert sich dem Begriff Kompetenz aus Sicht der Linguistik und führt das Begriffspaar Kompetenz und Performanz ein. In seiner Einleitung zu den Aspekten der Syntax-Theorie schreibt er: „Wir machen somit eine grundlegende Unterscheidung zwischen Sprachkompetenz (competence; die Kenntnis des Sprecher-Hörers von seiner Sprache) und Sprachverwendung (performance; der aktuelle Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen).“ Er unterscheidet also Kompetenz als allgemeine Sprachfähigkeit gegenüber Performanz im Sinne der individuellen Sprachanwendung, dennoch bedingen sie einander.

1959 von White in die Motivationspsychologie eingeführt, bezeichnet Kompetenz später das Ergebnis einer Entwicklung grundlegender Fähigkeiten, das über das Faktum des angeboren-Seins oder das Produkt eines Reifungsprozesses hinausgeht und dessen Entwicklung vom Individuum selbst besorgt wurde.

Arnold schreibt im Eintrag des Wörterbuchs der Erwachsenenbildung zu Kompetenz: „Kompetenz bezeichnet das Handlungsvermögen der Person. Während der Begriff „Qualifikation“ Fähigkeiten zur Bewältigung konkreter Anforderungssituationen bezeichnet, d.h. deutlich verwendungsorientiert ist, ist der Begriff Kompetenz subjektorientiert. Kompetenz umfasst nicht nur inhaltliches bzw. fachliches Wissen und Können, sondern auch außerfachliche bzw. überfachliche Fähigkeiten, die häufig mit Begriffen wie Methodenkompetenz umschrieben werden. Das allen Begriffen Gemeinsame ist die Entwicklung eines subjektiven Potenzials zum selbständigen Handeln in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen. Dieses subjektive Handlungsvermögen ist nicht allein an Wissenserwerb gebunden, es umfasst vielmehr auch die Aneignung von Orientierungsmaßstäben und die Weiterentwicklung der Persönlichkeit.“

Wissen per se generiert noch keine Handlungsfähigkeit, aber diese setzt Wissen voraus

Erpenbeck und Rosenstiel definieren in Ihrem KompetenzAtlas Kompetenz als „Dispositionen selbstorganisierten Handelns“. Sie gehen davon aus, dass Kompetenzen Fertigkeiten, Wissen und Qualifikationen einschließen, sich aber nicht darauf reduzieren lassen. Kompetenz ist geprägt von Werten, Normen und Regeln. Kompetenz ermöglicht jedoch erst die Handlungsfähigkeit in komplexen Situationen. John Erpenbeck führt weiters aus: “Kompetenzen lassen sich nur auf Grundlage der Selbstorganisationstheorie erschließen und setzen eine dynamische Handlungsinterpretation voraus. Kompetenzen entstehen aus dem Zusammenspiel eines Bündels von Fähigkeiten, impliziten Erfahrungen in unterschiedlichen Lebenssituationen und Verhaltensweisen. Insofern kann eine Person in Bezug auf die einen Funktions- oder Tätigkeitsanforderungen sehr kompetent sein, in Bezug auf eine andere wiederum nicht. Sie kann aber willentlich Kompetenzen entwickeln und in unterschiedlichen Situationen variabel nutzen. Wissen ist jedoch niemals eine Handlungsfähigkeit, sondern eine operativ wichtige Voraussetzung dafür. Fertigkeiten und Qualifikationen beinhalten zwar Handlungsfähigkeiten, aber keine im kreativen, selbstorganisativen Sinne.“

Diese Definition ist, wenn man dem Diskurs der Kompetenzauffassungen in der Kompetenzforschung folgt, der Performanzrichtung zuzuordnen. Im Gegensatz zur Kognitionsrichtung, die davon ausgeht, dass Kompetenzen kontextspezifische kognitive Leistungsdefinitionen sind, die sich funktional auf Situationen und Anforderungen in bestimmten Domänen beziehen, betrachtet die Performanzrichtung Kompetenzen als spezifische Handlungsfähigkeiten, als Voraussetzung zur Durchführung von Handlungen. Erpenbeck und Heyse gehen davon aus, dass Kompetenzen daher vorrangig im direkten Praxisbezug oder durch Formen von Coaching und Training vermittelbar sind.

Zwei Zertifizierungssysteme in Österreich

In Österreich haben sich bis heute zwei Zertifizierungssysteme, die Bildungs- und Berufsberatung zum Inhalt haben, etabliert. Beide sind Implementierungen geförderter EU-Projekte zur Professionalisierung der Erwachsenenbildung/Beratung. Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass neben diesen, explizit für Bildungs- und BerufsberaterInnen angebotenen Zertifizierungssystemen, andere Regelungen, die implizit auf die Beratungslandschaft Auswirkungen haben, nämlich die Standes- oder Berufsregelungen vieler Quellberufe der Bildungs- und BerufsberaterInnen (wie z.B. PsychologInnen, Lebens- und SozialberaterInnen, SozialarbeiterInnen…) bestehen.

Die Weiterbildungsakademie

In den 2000er Jahren wurde in Österreich die Weiterbildungsakademie entwickelt, seit 2007 zertifiziert und diplomiert sie Erwachsenenbildner/innen. Die Weiterbildungsakademie ist ein modulares Zertifizierungs- und Anerkennungsverfahren, in der Erwachsenenbildung tätige Personen können über die modular aufgebauten Abschlüsse ihre in vielfältiger Weise erworbenen Kompetenzen und Praxiszeiten anrechnen lassen. Sie erhalten in einem zweistufigen Verfahren entweder ein Zertifikat oder anschließend das Diplom.  Die Weiterbildungsakademie bietet eine Zertifizierung für Bildungs- und BerufsberaterInnen, die auf einem breiten Wissen in der Erwachsenenbildung aufbaut und in der zweiten Stufe eine Spezialisierung auf Beratung zulässt.

European Career Guidance Certificate

Das zweite System, das sich mit beruflichen Standards für Bildungs- und BerufsberaterInnen beschäftigt, ist das europäische Zertifikat, das auf den sogenannten MEVOC-Standards (Quality Manual for Educational and Vocational Counselling) aufbaut, nämlich das European Career Guidance Certificate, kurz ECGC.

Die MEVOC-Standards, ein Leonardo da Vinci Projekt der Europäischen Union, wurden unter der Federführung Österreichs (ibw – Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft) in Zusammenarbeit mit 19 Partnerinstitutionen aus 9 Ländern entwickelt. Diese MEVOC-Standards bezeichnen Qualitätsstandards für Bildungs- und BerufsberaterInnen.

Aus den MEVOC-Standards wurde ein Kompetenzraster entwickelt, der sich in folgende Bereiche, nämlich Bildung und Karriere, Beratungspraxis, Persönlichkeit und IKT-Kompetenzen gliedert. Diese vier Bereiche enthalten 12 Standards (die vielleicht treffender als Kompetenzbereiche zu bezeichnen sind) welche 35 erforderliche Kompetenzen umfassen.

Die Zielgruppe dieses Zertifizierungsverfahrens sind Bildungs- und BerufsberaterInnen mit mindestens 500 Stunden Beratungserfahrung in Gruppen- oder Einzelberatung. Ergänzend zu ihrer praktischen Erfahrung müssen spezifische Weiterbildungsveranstaltungen für Bildungs- oder Berufsberatung absolviert worden sein.

In der Folge können die so erworbenen Kompetenzen durch ein Assessment-Center und einen Online Test für das ECGC-Zertifikat angerechnet werden. Ebenso richtet sich das Angebot an BeraterInnen, die nicht offiziell anerkannte oder verwandte Ausbildungen abgeschlossen haben (z.B. Coaching-Ausbildung), bzw. die mehrere Weiterbildungsveranstaltungen in verwandten Bereichen absolviert haben und sich als Bildungs- und BerufsberaterInnen zertifizieren lassen möchten.

Der Universitätslehrgang „Bildungs- und Berufsberatung“ als erfolgreiche Umsetzung des ECGC-Zertifikats

Die Donau Universität Krems bietet seit Jahren einen Universitätslehrgang auf Basis des ECGC-Zertifikats an. Dieser richtet sich an Bildungs- und Berufsberater/innen im deutschsprachigen Raum, die Beratungserfahrung in Gruppen- oder Einzelberatung aufweisen und/oder – ergänzend zu ihrer praktischen Erfahrung – bereits spezifische, facheinschlägige Weiterbildungsveranstaltungen oder nonformale Aus- und/oder Weiterbildungen absolviert haben. Durch den Lehrgang und das europäische Zertifikat werden bereits vorhandene Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen sichtbar und belegbar gemacht.

Eine ausführliche Analyse und einen Vergleich der beiden Zertifizierungssysteme bietet die Dissertation „Bildungs- und Berufsberatung in der österreichischen Erwachsenenbildung“ der Autorin.

Über die Autorin:

Havlik DUKDr. Margit Maria Havlik (1971) ist Lektorin für Bildungs- und Berufsberatung und Erwachsenenbildung an verschiedenen österreichischen Universitäten. Sie unterrichtet an der Donau Universität Krems Wissensmanagement für Bildungs- und BerufsberaterInnen.

Link zum Buch: Bildungs- und Berufsberatung in der österreichischen Erwachsenenbildung: Historie, Feldanalyse, Basiskompetenzen (Sozialwissenschaften heute)

Weitere Informationen über die Donau-Universität Krems

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