Das nervöse „Keine-Zeit-Karussell“ scheint sich immer schneller zu drehen. Umso größer die Herausforderung, all die multiplen Bedürfnisse und Ansprüche so unter einen Hut zu bekommen, dass unterm Strich eine gesunde Lebensbalance möglich wird. Jedenfalls eine, die subjektiv positiv besetzt ist und zufrieden macht. Intentionen wie Strategien sind dabei höchst variabel.
Anmerkungen und Anregungen zu einem widersprüchlichen Lebensthema.
„Balance“ als Begriff ist nicht nur diffus, sondern auch strittig. Für die einen ist sie ein attraktives „Must-have“, für andere per se eine Illusion oder gar Nonsens. Und für manche kaum erstrebenswert, zumal sie lieber in Extremen als in Ausgewogenheit leben.
Gleichzeitig rotiert das „Zeit-Karussell“ nicht nur immer schneller, sondern spült auch unentwegt neue Lösungen auf den Markt. Gegenrezepte zwischen Hyper-Flexibilisierung oder herkömmlichen „9to5“-Modellen taugen nur bedingt. Sie gleichen einer Flucht nach vorne oder enden in Verweigerung.
Ebenso wenig überrascht, dass die perfekte Work-Life-Balance wohl kaum jemand auf die Reihe kriegt. Denn Lebensqualität bedeutet nicht Statusoptimierung auf immer höherem Niveau à la: mehr Karriere, mehr Freizeit, mehr Familie. Das Leben ist kein Fleischladen nach der „More-more-Devise“: Darf‘s ein bisschen mehr sein?
Auch Work-Life-Integration scheint nicht alle zu beglücken. Ebenso eine „Work-Work-Balance“, deren Lebenssinn sich ausschließlich in Arbeit manifestiert. Irgendwie plausibel, haben doch widersprüchliche Lebensansichten eine lange Tradition: „Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen“, so schon Martin Luther. Konterkarierend dazu Sokrates: „Die Muße ist eine Schwester der Freiheit.“ Und Zeitforscher Karlheinz Geissler postuliert heute: „Arbeiten ist leichter als leben.“
Work & Life – (k)ein Widerspruch?
Arbeit und Leistung – freiwillig oder unfreiwillig auf sich genommen – scheinen einerseits elementare menschliche Grundkategorien zu sein. Ob aus purer Notwendigkeit, das (Über-)Leben zu sichern oder um Anerkennung und Status zu erwerben. Andererseits wurde in der Antike (v. a. körperliche) Erwerbsarbeit als etwas betrachtet, das des Menschen unwürdig sei. Zumal sie nur etwas für Hörige und Sklaven, nichts aber für freie Menschen sei.
Aristoteles wiederum differenzierte zwischen einer „vita activa“ und „vita contemplativa“: Erstere als eine Zeit des Arbeitens und Leistens im Sinne eines körperlichen, materiellen Schaffens gemeint. Zweitere als eine Zeit des unentgeltlichen, immateriell ausgerichteten Lebens im Dienste der „polis“ (der Gemeinde) und der Philosophie.
Im Mittelalter gab es noch 190 Feiertage, die freie Zeit galt v. a. der Religion. Hingegen führte die neuzeitliche Entwicklung hin zum „animal laborans“ (dem „arbeitenden Tier“) bzw. zum „homo faber“ (dem „schaffenden Mensch“). Arbeit wurde besonders in Verbindung mit dem Calvinismus zur ehrbaren Pflicht, bedeutete aber auch Dienst an Gott. Der Protestantismus erkor Arbeit und Fleiß zum zentralen Lebenssinn. Der wirtschaftliche und finanzielle Erfolg wurde zum Maßstab für den göttlichen Segen.
Dieses Ideal einer religiösen Arbeitsgesellschaft, gekoppelt mit Fleiß, Disziplin und bescheidener Lebensführung, prägte in säkularisierter Form die nächsten Jahrhunderte. Arbeit wird bis herauf zum industriellen Zeitalter mehr denn je zum vorrangigen Lebenssinn. Bei gleichzeitiger Verabscheuung der Muße als etwas Unsittliches. Denn „Muße ist aller Laster Anfang“. Eine Maxime, die im Turbo-Kapitalismus zusätzlich beflügelt wird. Jetzt quasi gottlos, dafür umso gewinnorientierter.
Und heute? Alles multi, divers, disruptiv. Im diffusen 4.0-Kontext scheinen alte Muster überholt und eindeutige Lebens-, Wertekonzepte passé. Das gilt auch für den widersprüchlichen „Work & Life“-Diskurs. Begleitet von wuchernden Begriffen im smarten Anglo-Jargon: Work-Life-Balance, Life-Energy-Balance, Work-Tide-Balance, Work-Life-Blending, Work-Life-Integration, Work-Life-Dynamik oder Bleisure als Symbiose von Business und Leisure. Flankiert von New Work, Anti-Work, Co-Working, Hard Work, Smart Work, Slow Business, Flexicurity, usw.
Und was nun?
Fazit: Es gibt wohl keine allgemeingültige, „richtige“ Wahrheit. Auch nicht in der goldenen Mitte oder am Rande vermeintlicher Lebenspole. Sie muss im jeweiligen Lebenskontext immer wieder neu ausverhandelt und gesucht werden. Dabei kann eine menschliche Erkenntnis tröstlich wie hilfreich sein: „You can´t make everyone happy – you´re not a pizza!“
Der 2. Teil beleuchtet den umstrittenen Begriff „Work-Life-Balance“ und erläutert das Modell der „4 Qualitäten des Lebens“. Ergänzt durch Anregungen für die Praxis.
*
Hinweis: Der Artikel ist ein Auszug aus „Work & Life“, dem OaseLetter Nr. 21 der ManagementOASE. Abrufbar unter www.managementoase.at / OaseLetter.
Über den Autor:
Mag. Dr. Franz J. Schweifer ist Geschäftsführer des Beratungsinstituts „Die ManagementOASE – Schweifer & Partner, Coaching. Training. Consulting.“ in Mödling b. Wien. Als Temposoph, Zeitforscher, FH-Lektor, Managementtrainer & Coach mit über 20 Jahren Beratungserfahrung hat er sich v.a. auf ZEIT-spezifische Themen und Widersprüche spezialisiert. Und das auf gesellschaftlicher, unternehmerischer wie persönlicher Ebene.
Aktuelle Publikation: (1) Tempo all´arrabbiata (2) Ach du liebe Zeit (3) Zeit – Macht – Ohnmacht
Weitere Informationen über Franz J. Schweifer
[…] Teil 1 greift erhellende Hintergründe und Widersprüche im Zusammenhang von „Work & Life“ auf und fragt nach dem „Was nun?“. […]