Das Finden und Nutzen von Potenzialen in Unternehmen sollte nicht nur anlassbezogen z.B. in Mitarbeitergesprächen oder bei Strategiemeetings erfolgen, sondern im Arbeitsalltag laufend eingebettet sein.
Wie man die vielen kleinen Potenziale und mehr Gelingendes sowie Chancen auf den “Radarschirm” bekommt, zeigt das Konzept der Potenzialfokussierung auf.
Potenzial ist in der Alltagssprache ein viel verwendeter Begriff: Kinder und Jugendliche sollen ihr Potenzial entfalten können, MitarbeiterInnen sollen in den Unternehmen ihre Potenziale einsetzen und optimal entwickeln und auch die Unternehmen müssen permanent Potenziale identifizieren, um im Wettbewerb ihre Position behaupten zu können. Doch wie gelingt es uns, diese Potenziale in der Arbeitswelt und auch in Beratungssituationen zugänglich und nutzbar zu machen?
Der hier vorgestellte Potenzialfokussierte Ansatz sieht Potenzial „als die Möglichkeit, dass etwas besser gelingen kann“. Dabei ist nicht nur das Potenzial von Menschen gemeint, sondern auch das Potenzial und „Besser Gelingen“ in Beziehungen und wichtigen gesellschaftsrelevanten Größen wie Leistung sowie generell von Phänomenen. Potenzialfokussiertes Arbeiten und auch Gestalten des Alltags bezeichnet dann die konsequente Ausrichtung der Handlungen und Aktivitäten auf die Nutzung des Potenzials, damit besseres Gelingen für Einzelne aber auch soziale Systeme möglich wird. Dieses Potenzialfokussierte Vorgehen folgt folgenden Prinzipien:
Prinzip 1: Identifizierung und Verstärkung von Positiven Unterschieden
Für die Identifikation von Potenzialen ist der Fokus auf Unterschiede der entscheidende Ausgangspunkt um überhaupt zu Potenzialen zu gelangen. Grundvoraussetzung dafür ist eine andere Sichtweise auf Dinge, die uns vermeintlich als konstant erscheinen oder von denen wir nur die eine (meist negative) Seite betrachten: „Die Arbeit ist sinnlos“, „der Partner hat kein Einfühlungsvermögen bzw. ist ein Egoist“. Tatsächlich aber sind solche Wahrnehmungen nur Momentaufnahmen und niemals gleich, sondern immer unterschiedlich. Genau diese Unterschiede in den Fokus zu nehmen, wann etwas besser gelaufen ist, liefert mögliche Potenziale als auch die Hoffnung, dass es wieder besser werden kann. Die Fokussierung dieser Positiven Unterschiede wirkt dann wie eine „Brille“, die einen umfassenderen und detaillierteren Blick auf Funktionierendes ermöglicht.
Und vor allem: eine solche dualistische Sichtweise, dass es manchmal besser und manchmal schlechter laufen muss (vergleiche Hegels Dialektik) reduziert den Stress, dass Leistung/Beziehungen/die Zufriedenheit mit dem Job/etc. konstant optimal verlaufen müssen und erhöht die Akzeptanz von Fehlern und Rückschlägen, die als solche dann auch wertgeschätzt werden dürfen, da ohne sie keine Erfolge wahrzunehmen wären.
Prinzip 2: Potenziale kommen immer aus der Zukunft – Finalität statt Kausalität
Eine wesentliche Komponente des Konzeptes der Potenzialfokussierung liegt neben den positiven Unterschieden in der Dimension der Zeit. Mit Hilfe der Zeit soll auch der Unterschied zwischen Ressourcen und Potenzialen im Potenzialfokussierten Ansatz verdeutlich werden.
Die klassische Strukturierung der Zeit erfolgt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, womit auch Unterschiede in diesen einzelnen Phasen auftreten können. Das Auf und Ab bei der Motivation am Arbeitsplatz beispielsweise ist auch immer in der Vergangenheit aufgetreten (z.B. mehr Engagement bei bestimmen Projekten) und wird auch in der Zukunft mal besser und mal schlechter sein. Dabei zeigt sich die Tendenz, dass die Schwingungen nicht auf einem konstanten Niveau erfolgen, sondern sich in die Richtung von „besser“ bewegen.
Die positiven Unterschiede in der Vergangenheit sind das, was als Ressourcen bezeichnet wird: ein Gelingen, das bereits realisiert wurde. Potenziale hingegen sind jene zusätzlichen positiven Unterschiede, die über das bereits erreichte Niveau der positiven Unterschiede in der Vergangenheit hinausgehen und somit nur aus der Zukunft kommen können. Dies bedeutet, dass für eine Konstruktion oder Realisierung der Potenziale die Schritte aus einer besser funktionierenden Zukunft in die Gegenwart erfolgen und so auch unterschiedliche Handlungsoptionen erzeugt werden können. Hier wird die kausale Vorgehensweise, in der oftmals Schuldzuschreibungen in der Vergangenheit im Vordergrund stehen, zu Gunsten einer finalen Vorgehensweise aufgegeben, die eine gänzlich andere (und zwar viel positivere) Diskussionsdynamik ermöglicht.
In Arbeits- und Beratungssituationen wird somit der Fokus auf einen Zeitpunkt in der Zukunft gelegt und von dort aus erfolgt die Analyse, wie jemand von heute weg zu diesem etwas besseren Zustand gelangt ist. Beispielsweise kann man sich den Umgang mit einem schwierigen Kunden möglicherweise etwas erleichtern, indem man konkret und im Detail definiert, was anders ist, wenn der Umgang zwar immer noch nicht einfach, aber doch etwas besser ist (z.B. wir telefonieren statt schriftlicher Korrespondenz, dann können wir gleich Details nachfragen). Mit der Frage „was werden wir getan haben, damit wir dort hingekommen sein werden?“ lassen sich einzelne erforderliche Schritte dann erarbeiten („wir betonen, dass Telefonieren weniger zeitraubend ist“, „wir schicken nach dem Telefonat eine Zusammenfassung als Mail, dann merkt der Kunde, dass das für ihn einfacher ist“…).
Prinzip 3: Jede Perspektive hat Potenzial
Zusätzlich zur Fokussierung von Positiven Unterschieden aus der Zukunft heraus ist eine Vielfalt von Perspektiven ein wichtiger „Rohstoff“ für Potenzialidentifikation und -entwicklung.
Konstruktivistisch gesehen kann jeder Mensch als BeobachterIn und KonstrukteurIn des Geschehens nur einen Teil der relevanten Vorgänge erfassen (die Landkarte ist nicht die Landschaft). Potenzialfokussiertes Arbeiten beruht auf die Wahrnehmung von positiven Unterschieden von der Zukunft her und nutzt die Vielfalt der Wahrnehmungen von unterschiedlichen AkteurInnen. Dabei werden die Sichtweisen der einzelnen AkteurInnen nicht als Wahrheiten sondern als unterschiedliche Konstruktionen über die gelingende Zukunft gesehen, die die Wahrnehmung und die Qualität der Information über Möglichkeiten des Gelingens verbessern können. Sind z.B. bei Einzelberatungen keine anderen AkteurInnen vorhanden, kann durch Perspektivenwechsel ebenfalls die Qualität der Informationen verbessert werden.
Die Potenzialfokussierung ist von der Vorgehensweise her – wie die AnwenderInnen immer wieder berichten – recht einfach, aber es ist nicht leicht. Den Fokus von der nicht-funktionierenden Vergangenheit loszulassen und auf die gelingende Zukunft mit all den positiven Unterschieden zu wechseln ist in unserer defizitorientierten Sprachkultur ungewohnt. Die Techniken und Haltungen lassen sich aber erlernen und durch kontinuierliche Anwendung der Techniken verändert sich auch der Fokus – auf Möglichkeiten, Chancen und Potenziale.
Der Artikel ist die Zusammenfassung des im November erscheinenden Buches „Das Potenzial, das aus der Zukunft kommt“.
Über den Autor:
Dr. Mag. Günter Lueger, Leiter des Solution Management Centers und des Instituts für Potenzialfokussierte Pädagogik. 2004 Berufung zum Universitätsprofessor für Personalführung und Coaching, Buchautor, Vortragender und Mitglied von Editorial Boards. Zahlreiche Publikationen zu Führung, HR-Management sowie Beratung und Coaching. Entwickler von Potenzialfokussierten Tooldesigns durch Retooling und des Konzepts der Potenzialfokussierung für Management, Coaching und Beratung.
Weitere Informationen über das Potenzialfokus Center