Alle reden über Kreativität. Alle, außer den wirklich schöpferischen Menschen. Diese wissen nämlich, dass es nicht darum geht, kreativ zu sein, sondern darum, etwas Einzigartiges zu schaffen.
Das Problem mit der Kreativität
Seien Sie mal ehrlich: Wären Sie nicht gerne kreativer? Genial wie ein Steve Jobs, phantasiereich wie eine J.K. Rowling oder voller verwegener Ideen wie ein Richard Branson? Und hätten Sie nicht gerne kreativere Mitarbeiter, Kollegen und Vorgesetzte? Selbst wenn Ihre Antwort ein klares Ja ist, rate ich Ihnen dringend von den heute so weit verbreiteten Maßnahmen zur Kreativitätsförderung ab. Warum? Weil es Kreativität in dem Sinne gar nicht gibt. Was es gibt, ist ein Begriffswirrwarr. Die einen meinen mit Kreativität persönliche Eigenschaften, andere den Prozess des Problemlösens, dritte die „quergedachte“ Verknüpfung von Unterschiedlichem. Manche meinen erfinderische Notlösungen. Andere die kindliche Phantasie. Einige benennen gar eine „kreative Klasse“. Nur eine Gruppe von Menschen bezeichnet sich niemals als kreativ: die Kreativen selbst – schöpferische Menschen aus jedem Bereich, seien es Künstler, Unternehmer, Wissenschaftler, Pädagogen, Politiker, Marketingleiter, Ärzte oder Personalentwickler.
Die Ursache: ein Schock
Woher kommt also das unsinnige Gerede über Kreativität? Wir haben das seltene Glück, Beginn und Ort dieses Irrtums der Arbeitswelt exakt zu kennen. Er begann vor 55 Jahren, genauer: am 4. Oktober 1957 um 19:28:34 Uhr in der Stadt Leninsk. Was damals passierte, war Geschichte: Die Sowjets schossen einen Satelliten namens Sputnik 1 in den Orbit und lösten damit in der westlichen Welt den so genannten Sputnikschock aus – einen Schock, der die USA zum bis dato größten Programm zur Erforschung und Förderung von Kreativität veranlasste. Denn wie konnte es sein, dass ein in ihren Augen so rückständiges Land einen derart kreativen Akt zuwege brachte, fragte man sich besorgt. Seither beschäftigen sich Heerscharen von echten und selbst ernannten Kreativitätsexperten mit diesem Thema. Mit wirklich interessanten Ergebnissen, doch leider ohne praktische Relevanz.
Produktivität statt Kreativität
Kaum ein schöpferischer Mensch wird Ihnen nämlich klar sagen können, ob er gerade kreativ ist oder nicht. Wer sich mit schöpferischen Leistungen praktisch auseinandersetzt, verwendet besser ein anderes Wort, nämlich Produktivität. Jeder schöpferische Mensch kann nämlich genau benennen, ob er gerade produktiv war – mit anderen Worten: ob er oder sie gerade etwas geschaffen hat. Denn das ist der Punkt: Es geht gar nicht darum, kreativ zu sein. Es geht darum, etwas zu kreieren, etwas zu schaffen.
Schaffen bedeutet Stimmigkeit
„Schaffen“ bedeutet dreierlei: etwas Einzigartiges hervorzubringen, etwas zu erreichen und schlicht und einfach zu arbeiten. Genau das ist es, was Schaffende tun: Sie arbeiten konsequent auf ein möglichst einzigartiges Ergebnis hin. Dass sie es erreicht haben, und somit produktiv waren, spüren sie daran, dass sich in ihnen ein Gefühl der Stimmigkeit breitmacht – das Gefühl, das Bestmögliche aus sich herausgeholt zu haben. Etwas Geschaffenes muss nicht neu sein, aber in sich stimmig. Das heißt nicht, dass es harmonisch sein muss. Wohl aber müssen Disharmonien des Werks stimmig ausbalanciert sein: Denken Sie an große Kunstwerke oder einfach an Ihre eigene Arbeit: Sie werden im Normalfall dann zufrieden sein, wenn Sie das Gefühl haben: „Jetzt stimmt es!“ Erfahrene Schaffende wissen, dass der Zustand der Stimmigkeit nicht dann erreicht ist, wenn Sie nichts mehr hinzufügen können, sondern dann, wenn Sie nichts mehr weglassen können.
Große Werke
In ihrem Wesen sind alle Schaffensprozesse gleich: In pulsierenden Schleifen aus Versuch und Irrtum, aus Auf- und Zumachen, aus Fokus und Distanz nähern wir uns dieser Stimmigkeit an. Was unterscheidet dann aber Werke wie Beethovens Fünfte Symphonie von einer gekonnten Auslagendekoration? Wieso wird Goethes Faust auch noch in 100 Jahren gelesen werden, dieser Artikel aber wahrscheinlich nicht? Vier Faktoren sind es, die hier Großes von weniger Großem unterscheiden: die Überlegenheit gegenüber Vergleichbarem, die Bedeutsamkeit für die Empfänger, die Einfachheit und schließlich Nachhaltigkeit eines Werkes.
Überlegenheit und Bedeutsamkeit
Überlegenheit bedeutet, dass etwas Geschaffenes die jeweils geltenden Anforderungen besser erfüllt als Vergleichbares: Zum Beispiel ist sein Nutzen oder Erlebniswert höher, seine Dichte oder Ausdruckskraft stärker oder etwa seine Verallgemeinerbarkeit beziehungsweise Einsatzvielfalt größer. Gelegentlich verändert ein Werk sogar alles bislang Bekannte in seinem Bereich, wie etwa Apples iPhone, der Sound der Beatles. Ein Werk muss aber auch zur richtigen Zeit entstehen. Tut es das nicht, so kann es noch so bedeutsam für seinen Schöpfer sein, die Welt wird es nicht kümmern. Leonardo da Vincis Flugmaschinen konnte beispielsweise zu jener Zeit kein Mensch bauen, und Bachs Werk war hundert Jahre lang in der Bedeutungslosigkeit versunken. Wenn niemand Ihrem Schaffen Bedeutung beimisst, dann existiert es so gut wie nicht.
Einfachheit und Nachhaltigkeit
Ein Werk muss auch möglichst klar und verständlich ausgedrückt sein, um Anschluss an Bestehendes zu finden. Geniale Schöpfer sind nur selten diejenigen, die etwas völlig Neues schaffen, aber sie sind die ersten, die etwas auf konzise Weise tun oder ausdrücken. Einsteins Formel e = mc2 ist ein gutes Beispiel dafür. Schließlich muss etwas Geschaffenes seine Qualität möglichst lange behalten: eine These etwa ihre Richtigkeit, ein Kunstwerk seine ästhetische Kraft, ein Produkt seine Eigenschaften oder ein Gesetz seine Gültigkeit. Je dauerhafter etwas Geschaffenes ist, desto größer ist es.
Die zehn Gebote
Eines der besten Beispiele für die Erfüllung dieser Kriterien sind übrigens Moses‘ zehn Gebote: Sie waren bei ihrer Formulierung den vorhandenen Regeln des Zusammenlebens überlegen, sie sind denkbar einfach formuliert und auch nach Jahrtausenden für Milliarden von Menschen bedeutsam. Doch wäre es Ihnen je in den Sinn gekommen, Moses als „kreativ“ zu bezeichnen?
Über den Autor:
Wolfgang A. Erharter ist Buchautor, Musiker und Berater am Malik Management Zentrum St. Gallen. Seine Vorträge zum Buch „Kreativität gibt es nicht“ (Redline 2012) und zu Managementthemen gestaltet er musikalisch mit seiner Violine.